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Arabiens Stunde der Wahrheit

Arabiens Stunde der Wahrheit

Titel: Arabiens Stunde der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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Oligarchie des Scherifischen Reiches zu einem prunkvollen und etwas lasziven Gartenfest in seinem Sommerpalast nördlich von Rabat versammelt. Man trank Champagner und aß Kaviar. Ein Orchester spielte modernenBeat aus den USA. Die Frauen trugen Bikini, die Männer bunte Strandkleidung. Der König selbst ging in Bermuda-Shorts und Hawaii-Hemd unter seinen Gästen umher. Da geschah plötzlich das Unfaßbare. Ein heiliger und schrecklicher Sturm brach über diese frivole und sündhafte Gesellschaft herein. Unter dem Ruf des Heiligen Krieges »Allahu akbar« waren die Unteroffiziersschüler aus Ahermumu im Rif unter Anleitung ihres Kommandeurs auf Lastwagen in Skhirat angerollt, hatten sich mit ihren Waffen den Weg zum Palastinneren und zum Swimmingpool freigeschossen und begannen ein Gemetzel unter den Notabeln, den Diplomaten und Generalen, die der Einladung Hassans II. gefolgt waren. Blankes Entsetzen entstand unter den Gästen.
    Die jungen, fanatischen Soldaten gebärdeten sich wie ihre Vorväter, die im Gefolge der eifernden islamischen Erneuerungsbewegung der »Almohaden – El Muwahhidun« im zwölften Jahrhundert aus den rauhen Höhen des Atlas in die Ebene der Verweichlichung vorgestoßen waren, um im Namen der Einzigkeit Gottes den la­sterhaften und abtrünnigen Epigonen der Almoraviden-Dynastie ein Ende zu setzen. Die entfesselten Aufrührer aus Ahermumu, die – wie sich später herausstellte – von Agenten aus Libyen aufgewiegelt worden waren, hatten sich vorgenommen, den König zu ermorden.
    Schon wähnte man Hassan II. unter den Toten. In Wirklichkeit hatte sich der Monarch geistesgegenwärtig in eine Umkleidekabine geflüchtet. Als die Soldaten ihre systematische Suche fortsetzten und die verschlossenen Türen erbrachen, wobei auch die Dienerschaft wahllos niedergemäht wurde, hatte Hassan II. sich gefaßt. Er hatte eine weiße Jellabah über seine Bermuda-Shorts gestülpt, öffnete den Aufrührern selbst den Zugang, ging ihnen aufrechten Hauptes entgegen, hob die Hände zum Gebet und rezitierte die »Fatiha«, die Eröffnungssure des Koran: »Bismillahi rahmani ­rahim – Im Namen Gottes des Gnädigen, des Barmherzigen … Herrscher der Welt, König am Tage des Letzten Gerichts …« Das löste eine erstaunliche Reaktion aus: Die Mörder, die eben noch wild um sich schossen, erstarrten im Angesicht ihres Kalifen, des Befehlshabersder Gläubigen, des Nachkommen des Propheten, ließen die Waffen fallen und stimmten in das Gebet ein: »ihdina ­sirata el mustaqim – führe uns den Weg der Rechtschaffenen, derjenigen, denen Du Dein Wohlwollen schenkst, und nicht den Weg derjenigen, denen Du zürnst, den Weg der Irrenden.«
    Das Attentat von Skhirat war an der verblüffenden Geistesgegenwart des Monarchen gescheitert. General Oufkir, der auf seltsame und verdächtige Weise vom Gemetzel verschont wurde, hatte endlich die treu ergebene Palastwache mobilisiert. Die Unteroffiziersschüler ließen sich fast wehrlos abführen. Sie wurden umgehend erschossen.
    Der jetzige Herrscher, Mohammed VI., hütet sich, durch frivole Auftritte den Zorn der Gläubigen zu wecken. Aber die Pessimisten blicken auf die nördlichen Küstengebirge des marokkanischen Rif, das zur Zeit des französischen Protektorats von Spanien annektiert worden war. In den Jahren 1921 bis 1925 erhob sich die herrische Figur des »Rogi«, des Emirs Abdel Krim im Hohen Atlas, und rief seine Berber-Gefolgschaft zum Heiligen Krieg gegen einen nachgiebigen Sultan und die Präsenz ungläubiger Besatzer auf. Fast hatten seine wilden Krieger die spanische Garnison überrannt und ins Meer geworfen. Daraufhin bot Frankreich in aller Eile eine beachtliche Streitkraft auf und unterstellte sie dem Befehl des damals hoch­angesehenen Verteidigers von Verdun, des Marschalls Pétain. Mit erdrückender Übermacht haben die Franzosen den Aufstand des Rogi niedergekämpft.
    Könnte sich heute ähnliches wiederholen? Hassan II., der gefürchtet, aber unbeliebt war, hatte in einer Krisensituation das ganze marokkanische Volk zum »Jihad« mobilisiert und auf diese Weise hinter sich geschart. Er setzte den »Grünen Marsch« der frommen Massen in Bewegung, die unbewaffnet, aber den Koran in der Hand, die spanischen Grenzstellungen des Sakhiet-el-hamra geradezu

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