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Arabiens Stunde der Wahrheit

Arabiens Stunde der Wahrheit

Titel: Arabiens Stunde der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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Die Marokkaner blicken im Gegensatz zur tribalistischen Zersplitterung der übrigen Völker Nordafrikas von alters her auf eine imponierende staatliche, ja imperiale Vergan­genheit zurück. Von den Osmanen, die bis Tlemcen in Ost-Algerien vorrückten, wurden sie nie unterworfen. Sie erkannten ­auch keinfremdes Kalifat an, sondern verehrten den eigenen Sultan als geistliches Oberhaupt, als »Befehlshaber der Gläubigen«. In mancher Beziehung gleichen die kriegerischen Berberstämme des ­Hohen Atlas den Paschtunen Afghanistans. Eine komplette Kontrolle haben der Sultan von Rabat und der Emir von Kabul niemals über ihr Land ausgeübt. Das dem Herrscher unterworfene Territorium – hier »Bled Maghzen«, dort »Hukuma« genannt, beschränkte sich in Marokko auf die arabisierte Küstengegend und die Städte, während die Berber des Atlas im »Bled Siba«, wie die Paschtunen am Hindukusch, im sogenannten Yagestan, ihre Selb­stän­digkeit zu verteidigen wußten.
    Erst die Franzosen, die 1911 ihr Protektorat in Marokko eta­blierten, haben dank der klugen Zurückhaltung des Generalresidenten Lyautey dem »Maghreb el aqsa« zur administrativen Einheit verholfen. Der Sultan hat die Bevormundung durch Paris stets in Grenzen zu halten gewußt. Das ging unter Mohammed V., den das Volk abgöttisch liebte, so weit, daß er sich während des Zweiten Weltkrieges weigerte, die antisemitische Gesetzgebung der Kollaborateure von Vichy zu übernehmen, und den jüdischen Untertanen, die in großer Zahl in ihren »Mellahs« lebten, seinen persönlichen Schutz gewährte. Von de Gaulle wurde Mohammed V., der vorübergehend von engstirnigen Politikern der IV. Republik nach Madagaskar verbannt wurde, bevor er die volle Unabhängigkeit seines Reiches wiederherstellte, mit der höchsten Ehrung des »Freien Frankreich« ausgezeichnet, mit dem Titel eines »Compagnon de la Libération«.
    *
    Zu Marokko besitze ich eine recht persönliche Beziehung. Ich war in Rabat zugegen und habe das Land unter recht abenteuerlichen Bedingungen erforscht, als Gilbert Grandval, der französische Hochkommissar im Saarland, zum Generalresidenten von Marokko ernannt wurde. Er sollte dort durch liberale Reformen einen reibungslosen Übergang zum »Istiqlal« einleiten. In jenen Tagenhatte ich mich mit dem Führer der sozialistischen Opposition, Mehdi Ben Barka, angefreundet, der später in seinem Pariser Exil auf Befehl des Sohnes Mohammeds V., des Königs oder »Malik« Hassan II. – wie der Sultan nunmehr genannt wurde –, unter abscheulichen Umständen ermordet wurde. Ich war im Sommer 1955 nicht sonderlich überrascht, als das Experiment Grandval an einem völlig unerwarteten Aufstand der Berberstämme scheiterte. Ein paar Jahre später, nach meinem Studium im Libanon, hatte der Quai d’Orsay mir nahegelegt, mich – mit Zustimmung der Scherifischen Regierung – als »politischer Ratgeber« eines marokkanischen Provinzgouverneurs anwerben zu lassen. Ich hatte die Wahl zwischen Meknes und Ouarzazate, kann aber dem Schicksal dankbar sein, daß sich dieser Plan sehr bald zerschlug.
    Angesichts des »Frühlings«, der in der arabischen Umma vie­lerorts »aufgeblüht« ist, stellt sich immer wieder die Frage, ob die ­alawitische Dynastie Marokkos, die eine Abstammung vom Propheten Mohammed beansprucht, ebenfalls in den Strudel des Wandels und der Rebellion hineingerissen wird. Der jetzige König Mohammed VI. genießt angeblich eine gewisse Beliebtheit bei seinen Untertanen und kann sich stets auf seine geistliche Führungsrolle als »Amir el Mu’minin« berufen. Ob das auf Dauer ausreichen wird angesichts einer brodelnden proletarischen Masse im Slum Sidi Moumen am Rande von Casablanca und der ererbten Aufsässigkeit der Berber in ihren »Ksur« des Atlas?
    Sein Vater Hassan II., der sich durch hohe Intelligenz, durch persönlichen Mut, aber auch durch Grausamkeit auszeichnete, hatte diversen Komplotten und Revolten standgehalten. Ich befand mich gerade in Rabat, als ein befreundeter französischer Diplomat mir das ungewöhnliche Drama schilderte, mit dem eine königliche Sommerparty geendet hatte. Auf den Höflingen lastet heute noch die Erinnerung an das Attentat von Skhirat im Juli 1971.
    Hassan II. hatte das diplomatische Corps und die

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