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Arabiens Stunde der Wahrheit

Arabiens Stunde der Wahrheit

Titel: Arabiens Stunde der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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Form von Opposition nicht aufgegeben. Ein paar zögerliche Lockerungen der Zwangsjacke, in der sich sein Land befand, hatte er immerhin bewirkt. Seine Wirtschaftsreform zielte auf das Entstehen einer neuen Mittelklasse hin. Er ermöglichte – mit allen Risiken, die damit verbunden waren – der Bevölkerung den Zugang zum Mobiltelefon und zum Internet. Reformen wurden auch im Schulunterricht, in der Zulassung von Privatuniversitäten eingeleitet, und es fand eine Modernisierung der Banken und Versicherungsgesellschaften statt. Per Dekret wurde die bislang häufige Ausübung des »Ehrenmordes« unter Strafe gestellt.
    Ein Durchbruch zur Demokratie und zur Meinungsfreiheit war das beileibe nicht, und die Frage bleibt offen, wie weit die reale Machtausübung dieses nicht unsympathisch wirkenden Mannes durchdie strengen Bande seiner Familie und seines Clans eingeengt wird.
    Aus französischer Quelle erhielt ich bei meinem letzten Aufenthalt in Damaskus eine Skizzierung dieses konfliktreichen Sippensystems. Am Anfang stand der Landbesitzer Ali Souleyman, der in dem Dorf Qardaha eine angesehene Persönlichkeit der dortigen alawitischen Gemeinde war. Er verschied im Jahr 1963, nachdem er in zweiter Ehe eine gewisse Na’Isa geheiratet hatte, deren männliche Verwandte bereits Schlüsselpositionen in der syrischen Militärhierarchie ausübten. Souleyman hinterließ drei Söhne, den ältesten, Hafez el-Assad, der von 1971 bis 2000 über Syrien herrschte. Sein jüngerer Bruder, Jamil el-Assad, gilt weiterhin als »Patron« des alawitischen Berglandes, kommandiert im Verbund mit seinen Söhnen die alawitischen Milizen und steht im Parlament der Verteidigungskommission vor. Der dritte war Rifaat el-Assad, der mit seinen Sonderbrigaden vor keinem Gemetzel zurückschreckte. Zwischen Hafez und Rifaat entstand eine offene Feindschaft, die sogar mit Waffen ausgetragen wurde, bis Rifaat mit seinen beiden Söhnen im spanischen Exil verschwand.
    Hafez el-Assad hatte Anisa Makhlouf geheiratet, deren Bruder Mohammed ein Wirtschaftsimperium aufgebaut und ein immenses Vermögen erworben hatte dank seiner dubiosen Machenschaften im Tabak- und Erdölgeschäft. Assad wiederum hatte seine Tochter Bouchra mit Assef Chawkat verehelicht, dem Chef des militärischen Nachrichtendienstes. Der älteste und bevorzugte Sohn des Diktators, Basil, war, wie berichtet, bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Blieben neben Bashar el-Assad, dem heutigen Präsidenten Syriens, die Brüder Majed, der seinen Beruf als Elektro-Ingenieur ausübt, und Maher el-Assad, der als Befehlshaber der »Republikanischen Garde« angeblich keine Gewalttat scheut. Welche internen Spannungen vorherrschten, zeigte sich bei der Aufsässigkeit der beiden Vettern des Staatschefs, Mundher und Fawwaz el-Assad, Söhnen von Jamil el-Assad, und der daraus resultierenden Unruhe im Heimatland der Alawiten. Diese Kontroverse wurde 2005 beigelegt.
    Wennich diese Genealogie so ausführlich schildere, so weil sie typisch ist für die Herrschaftsstrukturen in manchem anderen arabischen Land. Ein syrischer Politologe hat dazu folgende Meinung vertreten: »Präsident Bashar el-Assad war keineswegs dazu berufen, seine heutige Spitzenfunktion auszuüben. Man improvisiert sich nicht als Diktator. Sein Vater hatte arbeiten, intrigieren und morden müssen, um die Alleinherrschaft an sich zu reißen und sie zu konsolidieren. Bashar hingegen gehört jener Generation junger Erben an – wie Mohammed VI. in Marokko oder Abdallah II. in Jordanien, denen die Macht zugefallen ist, ohne daß sie deren interne Mechanismen wirklich begreifen.« Wer dächte in diesem Zusammenhang nicht an Gamal Mubarak, den Sohn des Rais von Ägypten, oder an Seif el-Islam, den Sohn des Oberst Qadhafi in ­Libyen, die von ihren Vätern ebenfalls als Nachfolger designiert waren?
    Ohne durchgreifende Veränderungen übte Bashar el-Assad nunmehr eine Dekade lang sein höchstes Amt aus. Eine neue »Omertá« schien sich über das Land gelegt zu haben. Mein Mittagessen mit dem ehemaligen Botschafter Haddad in dem Restaurant, das früher einmal »Le Vendôme« hieß, brachte keinerlei neue Einsicht. So rief ich am Tag meiner Abreise den Korrespondenten einer europäischen Nachrichtenagentur an in der Hoffnung, über die Beziehungen zwischen Syrien und Iran einen Hinweis zu erhalten.

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