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Arabiens Stunde der Wahrheit

Arabiens Stunde der Wahrheit

Titel: Arabiens Stunde der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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Straßen und auf dem flachen Land die große Mehrzahl der muslimischen Frauen längst zum sittsamen »Hijab« zurückfand, soweit sie ihn überhaupt jemals abgelegt hatte.
    Toutounji erwartete mich bereits. Er stimmte zu, als ich von meinem Eindruck berichtete, die führende Baath-Partei – eingebettet in eine gefügige »Front des nationalen Fortschritts« – präsentiere sich zwar weiterhin als säkulare und sozialistische Bewegung, die schleichende Islamisierung habe jedoch seit meinem letzten Aufenthalt im März 1993 erhebliche Fortschritte gemacht. Sie stieß beim Regime auf keinen dezidierten Widerstand. Zwar war der Islam in der syrischen Verfassung nicht als Staatsreligion deklariert, wie das in so vielen arabischen Ländern der Fall ist. Es existierte kein Alkoholverbot, und in den Ausländerhotels stand sogar Schweinefleisch auf der Speisekarte.
    Doch allmählich setzte sich der koranische Lebensstil mit seinem sittlichen Konformismus durch. Jene Bestimmung war auch längst wieder in Kraft, wonach das Staatsoberhaupt sunnitischer Muslim sein mußte. Der gebürtige Alawit Hafez el-Assad hatte sich durch die »Fatwa« des obersten Mufti von Damaskus, der dem Präsidenten gefügig war, bestätigen lassen, daß er über die nötige Rechtgläubigkeitverfügte. Bevor wir uns nach einem vorzüglichen orientalischen Mahl trennten, gab mir Robert Toutounji den Rat, das Dorf El Qardaha im Alawiten-Gebirge südlich des Hafens Lattaqiya aufzusuchen, den Geburtsort des Präsidenten. Die Besichtigung dieser Pilgerstätte sei aufschlußreicher für die wahren Verhältnisse des Regimes als so mancher diplomatische Rapport.
    Durch malerische Felsschluchten fuhren wir am folgenden Tag dem Land der Alawiten entgegen. Olivenhaine und gelbblühende Büsche säumten die Straße. In der Hafenstadt des Nordens, die einmal der sowjetischen Flotte als Stützpunkt gedient hatte, hielten wir uns nicht länger auf. Zum Dorf El Qardaha war es nicht mehr weit. Wir folgten etwa dreißig Kilometer lang der Küste nach Süden und bogen östlich ins Gebirge ein. El Qardaha genoß die wohlwollende Förderung des Regimes. Die Straßen waren breit ausgebaut, mit Blumenrabatten verziert. Die öffentlichen Gebäude, mit den überlebensgroßen Bildern der »Dreifaltigkeit« – Hafez, Basil, Bashar – geschmückt, waren stattlicher als in anderen Flecken. Kurz nach der Einfahrt richtete sich der Blick auf eine große Moschee mit grüner Kuppel. »Hier liegt die Mutter des Präsidenten begraben«, erklärte mein Begleiter. Über dem Portal des Gebetshauses fiel ein farbenprächtiges Fresko auf. Die Mutter Assads, Na’Isa, nach der der ­Sakralbau benannt war, erschien dort wie auf einem Marienaltar. Über dem ernsten Antlitz der »Genetrix« und dem weißen Kopftuch, das ihr Gesicht – wie bei den meisten Madonnenabbildungen – umhüllte, strahlte ein goldener Heiligenschein. Natürlich fehlte auch der berühmte ältere Sohn Basil nicht auf dieser Ikone. Er hielt den Kopf gebeugt und küßte der Großmutter Na’Isa die Hand.
    Auf dem Hügel, der El Qardaha überragte, war eine andere, noch größere Moschee im Bau. Hier wollte Hafez el-Assad seinem Lieblingssohn Basil ein einmaliges Denkmal setzen. Die eigentliche Gruft war schon vollendet. Sie wurde mit edelstem Marmor ausgelegt. Die jungen alawitischen Grabeshüter der Baath-Partei gestatteten uns ohne Umschweife den Zutritt zu dem Sarkophag des ­toten Helden, des »Batal«, der mit kostbaren grünen Tüchern bedecktwar. Die Schahada, das islamische Glaubensbekenntnis, und der Aufruf »Allahu akbar« waren darauf in silbernen Lettern eingestickt.
    Die Wächter baten mich, meinen Namen in das Kondolenzbuch einzutragen. Sie wirkten fast wie Internatsschüler in ihrer einheitlichen Tracht – dunkle Hose, weißes Hemd und ein schwarzer Schlips. Doch die wirkliche Überraschung erwartete uns am Ausgang. Ein riesiges Gemälde war dort aufgerichtet. Da sah man den toten Basil in Galauniform auf einem weißen Pferd in den Himmel reiten. Auch sein Haupt war von einem Heiligenschein gekrönt. Fast so mystisch wie einst der Prophet Mohammed, als das Fabelwesen el-Buraq ihn von der el-Aqsa-Moschee in die Nähe Allahs entrückte, erhob sich der glorifizierte

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