Arbeit und Struktur - Der Blog
im Innern schon immer gefühlt habe, und alles andere fliegt jetzt erstmal als Konvention über Bord.
Allein die Vorstellung, Freunde oder Bekannte von mir könnten in der Straßenbahn sitzen, die da gerade an mir vorbeifährt, und mich in meinem nach außen hin vermutlich jämmerlich verwirrt wirkenden Zustand erkennen und zu Unrecht Mitleid empfinden, beunruhigt mich. Ich überlege, eine Rundmail an alle zu verschicken, falls mich jemand gesehen haben sollte.
Der Plan, vor meinen Freunden eine große, literarisch bedeutsame und tief bewegende Rede zu halten, nimmt abermals Gestalt an. In der Nacht verschicke ich Einladungen zu einem Treffen für den nächsten Abend in Holms Wohnung (weil Holm die schönste Wohnung hat und ich das nicht in einer häßlichen Umgebung machen möchte). Ich bin sicher, daß er einverstanden ist. Bei den Vorbereitungen und dem Durchblättern des Moleskine finde ich unter der Rubrik “Vorstellungen”, unter der ich meine gegen den Tod hilfreichen Gedanken ablege, den Eintrag “Psychostunde mit Cornelius”, und weiß nicht, was das ist. Wann habe ich das eingetragen? Und warum?
Ich erinnere mich vage, am Vortag bei Cornelius angerufen und launig gesagt zu haben: “Ich brauche eine Stunde Psychotherapie.” Ich erinnere mich ebenso vage, Cornelius mit seiner Mutter in einem Restaurant beim Essen erreicht zu haben. Er mußte mit dem Handy in den Windfang gehen, damit wir telefonieren konnten. Und ich erinnere mich, sehr lange mit ihm über wichtige und wichtigste Dinge gesprochen und dabei einen überaus lebensrettenden Gedanken entwickelt zu haben. Um dessentwillen allein ich zum Telefonhörer gegriffen hatte. Aber den Gedanken erinnere ich nicht. Und kein einziges Wort des Gesprächs.
Die Beunruhigung ist ungeheuer. Es ist 5:30 in der Nacht und nicht die ideale Zeit, jemanden aus dem Bett zu klingeln. Aber Cornelius braucht nur kurz, um aufzuwachen.
Im Gegensatz zu mir kann er sich an unser Telefonat gut erinnern. An einen speziell von mir vorgebrachten Gedanken erinnert er sich nicht. Während er unser Gespräch nacherzählt und von den von mir geäußerten Gefühlen meinen Freunden gegenüber spricht, bekomme ich einen winzigen Zipfel des schon im selben Moment erneut dahinschwindenen, rettenden Gedankens zu fassen. Ich will ihn aufschreiben – und kann es nicht. Ich sage die Worte vor mich hin, um sie nicht zu vergessen, ich brülle den Satz in den Telefonhörer und bitte Cornelius, ihn mir zu diktieren.
Er diktiert: “ Du bist besorgt …”, und meine Gliedmaßen fliegen schreiend durch die Luft. Das ist nicht der Satz. Genau den Satz, diktier mir genau den Satz!
“Du bist besorgt …” beginnt Cornelius fehlerhafterweise wieder, und unter Lautäußerungen, die mich selbst sofort an Dokumentarfilme über katholische Teufelsaustreibungen denken lassen, ramme ich schreiend, weinend und zuckend den Kugelschreiber auf das Notizbuch. Immer wieder fliegt die rechte Hand weg.
Schließlich steht da: “Ich bin besorgt, daß die anderen besorgt sind.”
Ich male noch einen schönen Rahmen um die wichtige Erkenntnis herum, schreibe Datum und Uhrzeit darunter – und mache die beunruhigende Entdeckung, daß ich mir die Worte nicht merken kann. Ich klappe das Notizbuch auf und lese, was da steht. Ich klappe es zu, starre auf den schwarzen Umschlag und weiß nicht, was dort stehen wird, wenn ich die Seite erneut aufklappe.
Es kommt mir vor wie ein fantastischer Zaubertrick. Ich werde das bei Holm vorführen: Seite auf. Da. Seite zu. Weg. Ein Fingerschnipsen von mir, und meine Festplatte ist beschrieben oder nicht. Finde ich jetzt wieder wahnsinnig komisch.
Weniger komisch und etwas verstörend scheint mir, daß der lebensrettende Satz, bei Licht betrachtet, keine besondere gedankliche Tiefe erkennen läßt. Blitzartig wird mir klar, daß er nur eigentlich der Schlüssel zu einer tiefer verborgenen Wahrheit ist, die mit diesem Satz als zugrundegelegtem Axiom logisch in mehreren Schritten erschlossen werden kann. In rasender Eile bekomme ich das letzte Glied der logischen Kette zu fassen und spüre, während es meinen Händen entgleitet und ich erneut danach greife, daß ich diese Gedankenkette schon öfter zu fassen versucht und zu fassen bekommen und unter unerklärlichen Umständen immer wieder verloren und vergessen hatte.
Jetzt gelingt es mir, sie festzuhalten:
1. Ich bin besorgt, daß die Freunde besorgt sein könnten.
2. Ich melde raus, wie gut es mir
Weitere Kostenlose Bücher