Das Erbe der Töchter: Roman (German Edition)
P
rolog
1927
Hester beobachtete die beiden beim Abstieg über die brüchigen Stufen, die von den Klippen in die kleine Bucht hinunterführten, und wusste sofort Bescheid.
Die junge Frau lehnte sich an ihn, den Blick unverwandt auf ihn gerichtet. Lachend neckte er sie. Er hatte einen Arm in Richtung Ozean ausgestreckt, und es sah aus, als wolle er ihr die Welt zu Füßen legen. Vermutlich würde er das auch tun. Der andere Arm berührte ihren beinahe. Doch nur beinahe. Hester spürte die gegenseitige Anziehung der beiden nahezu körperlich.
Sie seufzte. Sie wusste, dass die Zeit die Wunden der Liebe heilen kann – auch wenn sie sich dies in jenen Monaten, in denen sie am Kiesstrand von Port Isaac auf Gino gewartet hatte, nicht hätte vorstellen können. Gino … Damals war sie noch so jung gewesen und hatte natürlich jemand anderen gefunden. Sie war glücklich geworden. Nein, sie fühlte kein Bedauern. Ihre Sympathie galt dem jungen Paar, das noch ganz am Anfang seiner Beziehung stand, was nicht einfach ist. Außerdem wussten die beiden jungen Leute so wenig über ihre Familiengeschichte.
Hester blickte aufs Meer hinaus, auf dem in der Ferne Fischerboote tanzten. Die zunächst olivgrün, dann grau leuchtenden Wellen verschmolzen mit dem Horizont. Eine Färbung, die Hester an einen anderen Landstrich erinnerte. Achtzehn war sie damals gewesen. Die verschwommenen Umrisse hochgewachsener, in Reih und Glied stehender graugrüner Olivenbäume ragten auf dem terrassierten Hügel in die Höhe. Als Hester die salzhaltige Luft einsog, fiel ihr ein anderer Küstenstreifen ein, an dem das Meer stets stahlblau schimmerte und die Sonne Tag für Tag warm und samtig schien – und wo Gino lebte.
Damals war die Landschaft für Hester nichts weiter als eine diffuse, unwirkliche Kulisse gewesen. Aber nun sah sie die Dinge anders. Sie sammelte Treibholz für ein neues abstraktes Objekt, das sie gerade in Arbeit hatte und das die Küste Cornwalls symbolisieren sollte, die Küste, an die sie mittlerweile ihr Herz verloren hatte. Sie stolperte beinahe. Liebe …
Als sie sich umwandte, sah sie den jungen Mann unbekümmert und geschmeidig wie ein junger Panther in großen Sätzen den Abhang hinunterstürmen. Grinsend blickte er zurück zu dem Mädchen, das zögerte, ihm zu folgen.
Als der junge Italiener vor ihrer Tür gestanden hatte, war sie, Hester, wie gelähmt gewesen.
»Gino?«, hatte sie gemurmelt.
»Mein Vater …«, hatte er zögernd geantwortet. »Er hat vor seinem Tod oft von Ihnen gesprochen.«
Halt suchend hatte sie sich an den Türrahmen gelehnt. Demnach war er tot. Und er hatte oft von ihr gesprochen.
»Sie sollten es erfahren«, hatte er hinzugesetzt.
»Kein Mitgefühl, bitte.« Hester hatte es nicht hören wollen. Sie würde sich ihre Erinnerungen bewahren.
»Aber …«
»Kein Aber.«
Du lieber Himmel, er war seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten! Sie ahnte, was geschehen würde und weshalb er gekommen war. Er selber hingegen wusste es nicht, was für die Männer der Familie Bianchi typisch war.
Müde bückte Hester sich nach dem letzten Stück Treibholz. Und wenn er gefunden hatte, wonach er gesucht hatte? Was dann? Würde sich der schwarze Panther zähmen lassen?
Sie blickte auf, als er über den knirschenden Kies zurücklief und die Arme ausbreitete.
»Komm!«, rief er der jungen Frau zu. »Bei mir bist du sicher.«
Mein Fels und mein Anker, dachte Hester. Ich durfte das nicht erleben.
Mary machte einen unsicheren Schritt auf ihn zu, ehe sie ihm mit weit aufgerissenen Augen über die morschen Stufen entgegenlief.
Lachend fiel sie in seine Arme, und er zog sie an sich – ein hypnotischer Moment, an den Hester sich noch gut erinnerte.
Unbemerkt wandte sie sich ab. Er hat sie umarmt, ja. Aber hat er auch ihr Herz umarmt? Mit der Zeit würde es sich erweisen.
K
apitel 1
Samstagabend, 21 Uhr …
Cari löschte das Deckenlicht und versuchte sich zu entspannen. Da dieser Stadtteil mit seinen vielen Geschäften zum Flanieren einlud, ließ sie die Schaufensterbeleuchtung über Nacht an, damit die Passanten jederzeit die mit Perlen oder Ziermünzen bestickten Hochzeitskleider aus cremefarbener Seide, weißem Taft und Chiffon bestaunen konnten. Selbst zu dieser späten Stunde spazierte tatsächlich noch jemand über das Kopfsteinpflaster, um sich die Auslagen anzusehen. Ein Mann – wie ungewöhnlich! Meistens waren es junge Mädchen, die sich an diesen Kleidern nicht sattsehen konnten und Mütter,
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