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Arbeit und Struktur - Der Blog

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Titel: Arbeit und Struktur - Der Blog Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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halten Sektgläser auf Bauchhöhe und schauen stumpf gen Reinhardstraße. Da geht’s mir doch vergleichsweise gut.

    13.3. 2010 16:15

    Nach Blume von Tsingtao auch Diesseits des Van-Allen-Gürtels noch mal korrekturgelesen. Um zu gucken: Lohnt sich das überhaupt? Kann ich das? Oder mache ich lieber eine Weltreise? Aber die Geschichte ebenfalls völlig okay, sogar gut (und überraschenderweise ziemlich genau das, was ich schreiben wollte, während ich während der Fahnenkorrektur immer dachte: das ist nicht zu zehn Prozent das, was es sein soll). Mir schleierhaft, wie ich damit in Klagenfurt gegen den handwerklich grotesken und pathetischen Tellkamptext verlieren konnte. Entweder bin ich immer noch vollkommen größenwahnsinnig und dies wird ein Helmut-Krausser-Journal (sagt Bescheid, nebenan gibt’s noch Zyprexa) oder -

    14.3. 2010 11:00

    Arzttermin bei Gott, er versteckt sich hinter dem nom de plume Prof. Drei. Kurz vor der Rente oder drüber, Jahrzehnte Erfahrung, arbeitet zwölf Stunden am Tag, jeden Tag, schiebt mich am Sonntag in der Sprechstunde dazwischen. Wartezimmer voll mit Hirntumoren, die sein Loblied singen. Inoperable Gliome, die er operiert hat, vor neun Jahren. Der erste Arzt, der redet, wie mir das gefällt: In Zahlen, in Prozenten, in Wahrscheinlichkeit und Wirkungsgrad. Auch in Graden der Wirkungslosigkeit (80% der Bestrahlten zeigten überhaupt keine Wirkung, null, lediglich Spätfolgen in zwei bis vier Jahren). Daß er überhaupt mit Spätfolgen rechnet: Bis heute morgen war ich nicht sicher, ob ich im Sommer noch da bin. Weitere Zahlen, die ich nicht kannte: Tumor war acht Zentimeter groß, gewachsen in ca. sechs Monaten. Prof. Drei empfiehlt Angiogenesehemmer (Hypericin = Johanniskraut), Apoptoseauslöser (Resochin), EGFR-Blocker, spricht von einer Studie in Denver und einem Mann, der mit Hypericin geheilt wurde. Geheilt? Widerspricht das nicht der Wissenschaft? Er nimmt sich Zeit, erklärt alles, gibt mir zum Abschied die Hand und zieht mich gleichzeitig mit dem Händedruck aus dem Sprechzimmer: Nächster Patient.

    In der U-Bahn vor Glück außer mir.

    15.3. 2010 12:00

    Entlassung aus der Psychiatrie, poststationäre Behandlung. Adresse einer Psychologin, an die ich mich ggf. wenden kann. Ich glaube sicher, es nicht nötig zu haben, behalte diese Einschätzung aber lieber für mich.

    Zu Hause begeistertes Auf- und Umräumen der Wohnung, zentimeterdicke Staubschichten, stelle den Computer ans Fenster und frage mich, warum ich fünfzehn Jahre in der dunklen Ecke gesessen habe. Ach ja: Damals hab ich noch gemalt. Da brauchte ich auch Licht.

    16.3. 2010 20:00

    Bunnyshow. Fantastisch. Bunnys gut, Gäste gut, keine Hänger, alles richtig. Erkundige mich bei anderen, die die Show auch okay fanden, aber nicht so okay. Bin offenbar deutlich kritikloser als sonst, sollte also weiter vorsichtig sein, was den Schwanzvergleich mit Tellkamp angeht.

    Die letzten Tage Loslabern von Goetz. Bizarrer Text über Tellkamps Turm, er habe jetzt endlich Thomas Mann begriffen oder in Tellkamp Thomas Mann gelesen oder begriffen. Vermute, daß er weder das eine noch das andere wirklich gelesen hat, wenn er schon bei Kracht nur bis zu dem Wort Menschentalg kam. Wobei er mit dem Feuilleton ja übereinstimmt. Wenn man in Deutschland Geschichten schreibt, kommt man um Carver nicht herum, Adoleszenz immer Salinger, und beim ganz großen Wurf rauscht das alte Doppelgespann zum Einsatz: “Uwe Johnson: nur mit Proust und Joyce vergleichbar.” Aber am schlimmsten erwischt es immer Thomas Mann. Alles über 600 Seiten und Familie: Thomas Mann. Ja, richtig, der hat mal diesen einen Roman über eine Familie geschrieben. Gesellschaft kommt auch vor. Und? Ich kann mich nicht erinnern, schon mal einen einzigen Mann-Vergleich gelesen zu haben, der darauf hinauswollte, daß der zu Vergleichende ein unfaßbar großartiger Trickser sei. Schlagt mich tot mit der Hans-Carossa-Gesamtausgabe, aber ich halte die Trickserei für die Hauptsache bei Mann.

    Letztes Jahr hab ich Buddenbrooks und Zauberberg wiedergelesen im Rahmen des Projekts: Ich überprüfe mein Urteil mit zwanzig. Da gab es in diesem Fall ausnahmsweise nicht viel zu korrigieren, nur die Reihenfolge hatte sich geändert: Jetzt waren mir die Buddenbrooks noch lieber. Aber was mich killt an Mann und immer gekillt hat, sind seine formalen Tricks, diese kleinen Hebel zum Beispiel, die er im Text einbaut, um hunderte Seiten später mit einem einzigen Ruck und Satz und

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