Arbeit und Struktur - Der Blog
und verschießt aus verschiedenen Winkeln hochenergetische Photonen mit 1,5 Gray. Zweimal täglich. Dann piepst es, dann werde ich gedreht, dann piepst es wieder, und wenn die Assistentin unter großem Applaus das schwarze Tuch von der Kiste zieht, ist der Krebs verschwunden.
Strahlender Sonnenschein, fast blauer Himmel. Clinac 3 liegt an der Spree, es sind nur ein paar Meter bis zum Hauptbahnhof, und da stehe ich jetzt in dem Panorama, das ich von der Neuropsychiatrie aus noch sehen konnte. Das Fenster, an dem ich stand, kann ich nicht mehr identifizieren.
Sitze am Wasser mit Salinger. Jogger im T-Shirt, eine Frau, die sich auf der Bank ausgestreckt sonnt, Skater mit Slalomhütchen und Zeitmeßanlage.
Jetzt zeig mal, was du kannst, Karnofsky. Los.
23.3. 2010 6:55
In der Bestrahlung vor mir ein etwa gleichalter Mann mit einer senkrechten Narbe auf der Stirn. Sieht deutlich attraktiver aus als bei mir, wo ich vorgestern beim Haareschneiden feststellen mußte, daß meine Seite wirkt wie ein von Andy Warhol gestaltetes, von behinderten Kindern abgezeichnetes Rolling-Stones-Cover.
23.3. 2010 17:10
Eine Stunde warten auf die zweite Bestrahlung. Zeichne einen Mitwartenden mit Kugelschreiber in mein Notizbuch. Erstes Porträt seit, ich glaube, Tiina, seit fünfzehn Jahren. Nicht gut, ich habe den abstrakten Zugang zu den Linien und Winkeln nicht mehr, aber daß ich überhaupt wieder Freude am Zeichnen habe: eine der vielen Merkwürdigkeiten der letzten Wochen.
24.3. 2010 16:39
Der Jugendroman, den ich vor sechs Jahren auf Halde schrieb und an dem ich jetzt arbeite, ist voll mit Gedanken über den Tod. Der jugendliche Erzähler denkt andauernd darüber nach, ob es einen Unterschied macht, “ob man in 60 Jahren stirbt oder in 60 Sekunden” usw. Wenn ich das drinlasse, denken alle, ich hätte es nachher reingeschrieben. Aber soll ich es deshalb streichen?
24.3. 2010 18:49
Noch mal Googeln: Eine Hypericin-Studie an Mäusen mit gutem Erfolg. Eine Chloroquin-Studie an Menschen vom National Institute of Neurology and Neurosurgery of Mexico, 2005: Die Chloroquin-Gruppe überlebt im Schnitt 24 Monate, die Placebos 11 Monate. Dreißig Teilnehmer, und etwas verwirrend: die randomisierte Chloroquin-Gruppe ist durchschnittlich fünf Jahre jünger, bei gleichem Karnofsky. Was mir nicht ganz unerheblich vorkommt. Folgestudien?
Ansonsten wenig zu Chloroquin, außer dem Treffer in der Blume von Tsingtao. Da wirft der Erzähler sich damit zu, nachdem er seinen Fieberanfall hatte und in einer Gedankenschleife aus der Welt zu verschwinden glaubte.
Apoptoseauslöser: Das Protein CD95 ist ein wichtiges Schaltmolekül, um den programmierten Zelltod auszulösen, wofür sich die Krebsforschung logischerweise interessiert. Schalter anschalten, und der Krebs macht sich selber weg. So die Idee. Martin-Villalba vom Deutschen Krebsforschungszentrum findet 2008 (?) heraus, daß die Aktivierung von CD95 beim ausgerechnet Glioblastom zu explosionsartigem Wachstum des Tumors führt.
Jetzt in Heidelberg in der Entwicklung: APG 101 von Apogenix, das den Apoptoseschalter CD95 über die Neutralisierung des Liganden CD95L auszuknipsen versucht. Verträglichkeit des Medikaments erwiesen, zur Zeit Phase-II-Studie an Rezidiven in Heidelberg.
“Ligand CD95L”, “Rezeptor mit pleiotroper Funktion” – mittlerweile gehen mir die Worte so leicht über die Lippen wie “Schmetterlinge im Bauch”. Ich weiß sogar teilweise, was sie bedeuten.
Laut Apogenix-Website überleben weniger als 30% der Glioblastome das erste Jahr. Bisher waren es immer siebzig. Dreißig, siebzig, whatever: Old Karnofsky und ich fahren eh mit dem Taxi.
26.3. 2010 10:00
Nach einer Woche Chemo und Bestrahlung keine Nebenwirkungen, vielleicht ein leicht benommenes Schwindelgefühl.
28.3. 2010 21:44
Die letzten Tage den Jugendroman gesichtet und umgebaut, Übersicht erstellt, einzelne Kapitel überarbeitet, neue entworfen. Jetzt von Anfang an: jeden Tag mindestens ein Kapitel. In spätestens 52 Tagen ist es fertig. Heute: Kapitel 1.
28.3. 2010 22:30
Je länger man googelt, desto sicherer sinkt die Wahrscheinlichkeit, ein Jahr zu überleben, unter 50 Prozent. Immer noch ohne Schlafmittel.
29.3. 2010 12:30
Termin bei Prof. Moskopp und ein Treffer im Gen-Lotto: Ich hab die Scheißmethylgruppe. Ich bin hypermethyliert. Der entscheidende Marker, ob der Körper auf Temodal wahrscheinlich überhaupt anspricht. Und jetzt fick dich in deinen kleinen,
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