0506 - Das unheimliche Grab
Der Mond zeigte eine ungewöhnliche Blässe, als wollte er bewußt nicht mehr stark leuchten.
Tommy trat in die Pedalen. Das Rad war schon älter, auch sehr schwer. Er mußte sich anstrengen, um voranzukommen. Wenn er den Wald durchfahren hatte und in die große Kurve hineingeglitten war, konnte er den Ort bereits sehen.
Getrunken hatte er nicht viel. In seinem Portemonnaie herrschte mal wieder Ebbe. Drei halbe Liter hatte er sich reingezogen. Bei ihm reichte das nicht aus, um wirklich betrunken zu werden. Mädchen waren auch nicht da gewesen, den Abend in der Kneipe hätte er sich eigentlich sparen können.
Und jetzt diese Dunkelheit.
Sie wirkte komisch. Nicht blau, nicht schwarz, eher grau. Ein wattiges, unheimliches Grau, wie kurz vor einem Gewitter. Es war nicht warm und nicht kalt, den Fahrtwind empfand er sogar als angenehm, aber jetzt, wo der Wald immer näher rückte, hatte er das Gefühl, als würde das graue Band der schmalen Straße noch enger.
Der Beginn des Waldes kam ihm vor wie ein Trichter, der ihn verschlucken wollte.
Plötzlich sah er die Gestalt! Sie hatte die Arme ausgebreitet.
Der Vergleich mit einer Vogelscheuche kam Tommy in den Sinn.
Wenn er die Gestalt nicht an- oder überfahren wollte, mußte er bremsen.
Er stemmte sich in den Rücktritt, der sofort griff. Das Rad geriet aus der Spur, seitlich rutschte der hintere Reifen weg, aber Tommy lenkte noch gegen.
Dann stand er.
Die Gestalt hatte sich noch immer nicht bewegt. Sie trug ein langes, schwarzes Kleid, vielleicht auch einen dünnen Mantel, so genau war es nicht zu erkennen. Aus den Ärmeln schauten die Hände und ein Teil der Arme hervor.
Es waren knochige Hände mit einer dünnen Haut über den langen Fingern. Hände, die Spuren des Alters zeigten, wie auch das Gesicht mehr einer Landschaft aus Falten und Runzeln glich.
Tommy schluckte. Sein Atem ging so schnell, daß er schon fast über die Lippen pfiff. Er war sonst nicht auf den Mund gefallen, in dieser Minute jedoch wußte er nicht, was er sagen sollte. Die Begegnung war einfach zu plötzlich gekommen.
Was wollte die Frau?
Er starrte sie direkt an und glaubte auch, sie zu kennen. Irgendwo hatte er sie schon einmal gesehen. Sie mußte in der Gegend wohnen, wahrscheinlich im Nachbarort.
Normalerweise hätte er über sie gelacht oder sie kurzerhand zur Seite geschoben, um weiterfahren zu können, doch heute hielt ihn ein Gefühl zurück, das er sich selbst auch nicht erklären konnte.
Deshalb versuchte er es mit freundlichen Worten. Jedenfalls nach seiner Meinung.
»He, was soll das? Warum lassen Sie mich nicht durch? Ich will nach Hause, Alte.«
Die Frau hielt noch immer die Arme ausgestreckt und sah aus wie eine Hexe. »Ich weiß, daß du nach Hause willst, Tommy.«
»Du… Sie kennen mich?« Er war überrascht.
»Ja, die alte Galinka ist nicht so dumm, wie viele meinen.«
Als sie ihren Vornamen gesagt hatte, fiel Tommy auch der volle Name wieder ein. Sie wohnte tatsächlich im Nachbarort und hieß Galinka Bachmann. Von vielen Einheimischen wurde sie als Wurzelfrau oder Hexe beschrieben, einige machten einen Bogen um sie, wenn die alte Galinka ihnen begegnete. Tommy war es egal. Er hatte mit ihr nie viel zu tun gehabt, sie war für ihn ein Neutrum, bis jetzt jedenfalls.
»Und jetzt?« fragte er.
»Fahr, mein Junge. Fahr so schnell wie möglich, aber meide diesen Wald, hörst du?«
»Wieso? Es ist die kürzeste Strecke nach Hause.«
»Ich weiß, aber mach lieber einen Umweg.«
»Unsinn, ich will…«
»Bitte!« Die Stimme klang drängend. Gleichzeitig ließ die Frau die Arme sinken.
Jetzt konnte Tommy Cramer an ihr vorbeiradeln. Er wunderte sich selbst darüber, daß er nicht in den Sattel stieg und losfuhr. Statt dessen fragte er nach den Gründen. »Weshalb willst du mir die Weiterfahrt verweigern?«
Sie hob ihren Blick. Die Augen sind dunkel wie Kohle, dachte der Junge und hörte ihre Antwort. »Weil ich nicht will, daß ein so junges Leben schon verlöscht. Er holt alle, er nimmt keine Rücksicht.«
»Okay, und wer ist er?«
»Der Tod!«
Galinka hatte die Antwort in einem Tonfall gegeben, der Tommy erschreckte. Bisher hatte er das Ganze noch als Spaß angesehen, das war es jetzt nicht mehr. Die Worte der Frau hatten verdammt ernst geklungen.
»Ich soll also umdrehen?« fragte er nickend.
»Ja, wenn du weiterleben möchtest.«
Tommy schabte über sein blondes Strähnenhaar. »Klar, will ich das.«
»Nimm den Umweg. Dreh dich nie um. Sei schnell,
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