Arche Noah | Roman aus Ägypten
Adler die Flügel zusammenfaltet, legte er die Ohren an. Er hörte nichts mehr, nur noch das Röcheln seiner Lunge beim Ein- und Ausatmen der verpesteten Luft. Die Augen geschlossen, richtete er den Blick besonnen nach innen. Ihm fiel eine Szene aus einem Karatefilm ein. Der Held hatte ebenfalls die Sinne abgeschottet, um sich voll und ganz auf den nächsten Schlag zu konzentrieren. Achmads Problem war allerdings, dass er nicht wusste, gegen wen er ihn hätte führen sollen und ob er in dem Alter überhaupt noch in der Lage wäre, einen Schlag auszuteilen.
M eine Mutter ist grossartig, der grossartigste Mensch auf der Welt. Sie baute mich wieder auf, gab mir Kraft und liess mich Hoffnung schöpfen. An dem Abend war ich schon um acht Uhr heimgekommen. Sonst kam ich frühestens um zehn. Die Füsse über den Boden schleifend, als wiege jeder Schuh hundert Tonnen, schleppte ich mich durch die Tür. Mutter sah mich an, und ich hatte das Gefühl, dass sie im Nu mein Innerstes erfasste. Sie braucht mir nur einen Blick zuzuwerfen, und schon weiss sie Bescheid. Keine Ahnung, wie das geht.
»Mach dir nichts draus, mein Junge. Was Gott dir beschert, ist zu deinem Besten«, sagte sie mit liebevoller Stimme, legte die Hand auf meine Stirn und küsste mich. »Die Welt dreht sich wie ein Wasserrad. Du weisst nicht, was dich in der nächsten Runde erwartet. Das Wasserrad, mein Junge, schöpft immerzu Wasser, nichts anderes. Wasser ist eine Wohltat. Und das bisschen Schlamm, der sich ins Wasser mischt, werde ich dir von der Seele waschen.«
Später am Abend schauten wir uns im Fernsehen den Film Si Omar 4 an. Mutter liebte den Schauspieler Nagîb Rihâni. »Siehst du«, sagte sie, als der Film vorbei war, »am Schluss hat sich alles wieder zum Guten gewendet.«
Eine ganze Woche bewegte ich mich nicht aus dem Haus. Die Zeit mit Mutter war wunderbar, ich fühlte mich so geborgen. Danach ging ich auf Arbeitssuche. Einen Monat lang suchte ich, und am Ende beschloss ich, mich von Hâgar zu trennen. Ich hatte triftige Gründe.
H âgar war seine erste und letzte Liebe. Die Liebesgeschichte des Jahrhunderts, wie die Kommilitonen sagten. Er sah ihre grossen Augen am 1. Januar 2000 um 11 Uhr 59 Minutenund 59 Sekunden. Als ihre Blicke sich trafen, schlug die Uhr zwölf und läutete damit die dreizehnte Stunde des neuen Jahrhunderts und den Beginn ihrer feurigen Liebe ein. Zur Feier seines achtzehnten Geburtstags verschlang Achmad zusammen mit seinen neuen Freunden in der Cafeteria gerade Unmengen von Lebersandwiches mit Peperoni, als eine Schar junger Studentinnen hereinspazierte. Erst seit ein paar Monaten an der Universität, erkundeten sie auf ihrem Rundgang Gelände und Studenten. Hâgar war weder die Schönste noch die Grösste, noch die Kleinste. Sie war nicht einmal die, die am nächsten an ihm vorbeischlenderte. Trotzdem sah Achmad in diesem Moment und auch danach nur sie. Er dagegen war der bestaussehende Student. Sein Gesichtsausdruck zeugte von Grösse, ganz ohne sein Zutun. Seine Erscheinung musste er von Königen geerbt haben, die vor längst vergangenen Zeiten über ferne Länder herrschten. Deshalb hatten alle Studentinnen nur Augen für ihn und beneideten Hâgar für den Rest der Studienzeit um ihr Glück.
Um zwölf Uhr und zwei Sekunden lächelte Achmad Hâgar übers ganze Gesicht an und brachte damit ihren Kreislauf aus dem Takt. Ihr Herz pumpte doppelt so viel Blut in die rechte Wange und das linke Ohr wie sonst. Dadurch gelangte offenbar zu wenig Blut in die Beine. Ihr linkes Knie geriet ins Zittern, und sie strauchelte. Achmad hatte nur gelächelt, nichts weiter. Alles Weitere übernahm Hâgar. So begann die Liebesgeschichte des Jahrhunderts und währte, unter dem besonderen Schutz des Gottes Eros und trotz so manchem von Himeros eingefädelten Geplänkel, mehrere Jahre. Achmad strahlte innere Ruhe und Gelassenheit aus.Hâgar dagegen war ausser sich vor Glück, denn sie war von dem tiefen Gefühl erfüllt, dass Gott ihr, der Bauerntochter aus dem Nilschlamm, den Prinz der Prinzen beschert hat. Nach dem Universitätsabschluss machte Hâgar zu Hause ihren Standpunkt messerscharf klar. Sie werde, verkündete sie ihren Eltern, geduldig warten, bis die Umstände es Achmad erlaubten, um ihre Hand anzuhalten, und sollte es so lange dauern, wie der unglückliche Geist in der Flasche sass, bis er von Aladin befreit wurde. Ihre Eltern begriffen, dass in dieser Sache nicht mit ihr zu spassen war. Als der Vater sie einmal auf
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