Archer Jeffrey
sich verbissen durch die Bücher, so daß der Vorsprung im Lauf der Wochen immer kleiner wurde, während sich zwischen den Jungen Freundschaft und Rivalität entwickelte. Dem deutschen und dem polnischen Lehrer fiel es schwer, zwischen dem Sohn eines Barons und dem eines Waldhüters keinen Unterschied zu machen, obwohl sie auf die Frage des Barons widerwillig zugeben mußten, daß Herr Kotowski die richtige Wahl getroffen hatte. Die Einstellung der Lehrer kümmerte Wladek nicht, weil Leon ihn stets als seinesgleichen behandelte.
Der Baron ließ mitteilen, daß er mit dem Fortschritt der beiden Knaben zufrieden sei, und von Zeit zu Zeit schenkte er Wladek als Belohnung Kleider oder Spielzeug. Wladeks anfänglich ferne, distanzierte Bewunderung für den Baron wurde zu Hochachtung, und als Weihnachten nahte und Wladek in das kleine Waldhaus zu Vater und Mutter zurückkehren mußte, bedrückte ihn der Gedanke, Leon zu verlassen.
Sein Kummer war begründet. Wohl war er anfänglich glücklich, seine Mutter wiederzusehen, doch nach den drei Monaten, die er im Schloß verbracht hatte, bemerkte er Mängel in seinem Heim, die ihn vorher nicht gekümmert hatten. Die Ferientage schleppten sich dahin. Wladek fühlte sich eingeengt in dem kleinen Haus mit dem einen Zimmer und dem Dachboden, und die kargen Speisen, die mit der Hand gegessen wurden, mochte er nicht mehr; im Schloß teilte niemand durch neun! Nach zwei Wochen sehnte er sich danach, ins Schloß und zu Leon zurückzukehren. Jeden Nachmittag ging er die sechs Werst bis zum Gut und starrte auf die hohen Mauern, die den Besitz umgaben. Florentyna, die ja mit dem Küchenpersonal gelebt hatte, fiel die Rückkehr leichter, und sie konnte nicht verstehen, daß das kleine Haus für Wladek nie mehr ein Zuhause sein würde. Der Ziehvater wußte nicht recht, wie er mit dem Jungen umgehen sollte, der jetzt ordentlich angezogen war, ordentlich sprach und mit sechs Jahren von Dingen erzählte, die der Mann weder verstand noch verstehen wollte. Der Junge schien nichts anderes zu tun, als den ganzen Tag zu lesen. Was soll aus ihm werden, fragte sich Jasio. Wie durfte er hoffen, ehrlich sein Brot zu verdienen, wenn er weder eine Axt schwingen noch einen Hasen fangen konnte? Auch der Vater betete, daß die Ferien rasch vorübergehen sollten.
Helena war stolz auf Wladek und wollte sich anfangs nicht eingestehen, daß zwischen ihm und den anderen Kindern eine Kluft bestand. Schließlich ließ es sich jedoch nicht übersehen. Als Stefan und Franck eines Abends Soldaten spielten - sie waren Generäle, die einander bekämpften - verboten sie Wladek mitzuspielen.
»Warum werde ich immer ausgeschlossen?« rief Wladek. »Ich will auch lernen, wie man kämpft.«
»Weil du nicht zu uns gehörst«, erklärte Stefan. »Du bist nicht wirklich unser Bruder.«
Ein langes Schweigen trat ein, bevor Franck fortfuhr: »Vater wollte dich gar nicht haben, nur Matka war auf deiner Seite.«
Wladek stand bewegungslos da, und seine Augen suchten in dem Kreis von Kindern nach Florentyna.
»Was meint Franck, wenn er behauptet, ich sei nicht euer Bruder?« fragte er. So erfuhr Wladek von den Umständen seiner Geburt und begriff, warum er anders war als die Brüder und Schwestern. Die Mutter war zwar verzweifelt, weil Wladek sich jetzt völlig zurückzog, doch er freute sich insgeheim, daß nicht das gemeine Blut des Waldhüters in seinen Adern floß und eine ihm unbekannte Abstammung alle Möglichkeiten offenließ.
Als die verunglückten Ferien endlich zu Ende gingen, war Wladek froh, ins Schloß zurückkehren zu dürfen. Leon empfing ihn mit offenen Armen; auch für ihn, den der Reichtum des Vaters isolierte wie Wladek die Armut des Waldhüters, waren es trübselige Weihnachten gewesen. Von diesem Augenblick an schlossen sich die Jungen noch enger zusammen und wurden bald unzertrennlich. Als die Sommerferien kamen, bat Leon seinen Vater, Wladek im Schloß zu lassen. Der Baron willigte ein; auch er hatte Wladek liebgewonnen. Wladek war selig; er betrat das Haus der Zieheltern nur noch einmal in seinem Leben.
Wenn Wladek und Leon ihre Aufgaben gemacht hatten, verbrachten sie die restliche Zeit mit Spielen. Ihr liebstes Spiel hieß chowanego, eine Art Versteckspiel; da das Schloß zweiundsiebzig Zimmer hatte, wurde dieser Zeitvertreib nie monoton. Wladeks Lieblingsversteck war der Kerker unter dem Schloß; das einzige Licht, das einen dort verraten konnte, fiel durch ein kleines Steingitter hoch oben an der Wand
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