Archer Jeffrey
es mir blitzartig durch den Kopf.
»Kann ich Christina jetzt sehen?« fragte ich.
Er nahm mich beim Arm und führte mich in sein Büro. »Möchten Sie sich nicht setzen?« fragte er. »Ich fürchte, ich
habe eine traurige Nachricht für Sie.«
»Geht es ihr gut?«
»Es tut mir sehr, sehr leid, Ihnen sagen zu müssen, daß Ihre
Frau tot ist.«
Zuerst wollte ich ihm nicht glauben, weigerte mich, ihm zu
glauben. Warum? Warum? Ich wollte schreien.
»Wir hatten sie gewarnt«, fügte er hinzu.
»Sie gewarnt? Wovor gewarnt?«
»Daß ihr Kreislauf es ein zweites Mal nicht durchstehen
würde.«
Christina hatte mir nie erzählt, was der Arzt mir jetzt
berichtete – daß es nämlich bei der Geburt unseres ersten Kindes Komplikationen gegeben und die Ärzte ihr von einer zweiten Schwangerschaft abgeraten hatten.
»Warum hat sie mir nichts davon gesagt?« wollte ich wissen. Dann wurde mir klar, warum. Sie hatte um meinetwillen – für mich, der ich so dumm, egoistisch und gedankenlos gewesen war – alles riskiert, und am Ende hatte ich den einzigen Menschen, den ich liebte, umgebracht.
Sie erlaubten mir, Deborah für einen Moment auf dem Arm zu halten, bevor sie sie wieder in einen Brutkasten zurücklegten und mir sagten, sie würde erst nach vierundzwanzig Stunden ganz außer Gefahr sein.
Dir wird nie ganz bewußt sein, Vater, wieviel es mir bedeutete, daß Du so schnell ins Krankenhaus kamst. Christinas Eltern kamen erst später an jenem Abend. Sie verhielten sich großartig. Er bat mich um Verzeihung – bat mich um Verzeihung! Es wäre nie geschehen, wiederholte er ständig, wenn er nicht so dumm und voller Vorurteile gewesen wäre.
Seine Frau ergriff meine Hand und fragte, ob ich ihr erlauben werde, Deborah von Zeit zu Zeit zu sehen. Natürlich willigte ich ein. Sie brachen kurz vor Mitternacht wieder auf. Während der nächsten vierundzwanzig Stunden saß ich im Flur, ging auf und ab und schlief sogar dort, bis sie mir sagten, meine Tochter sei außer Lebensgefahr. Sie müsse noch ein paar Tage im Krankenhaus bleiben, könne aber schon Milch aus einem Fläschchen trinken.
Christinas Vater war so liebenswürdig, die Formalitäten für die Beerdigung zu übernehmen.
Du mußt Dich gefragt haben, warum ich nicht bei Dir erschien, und ich schulde Dir eine Erklärung. Ich dachte, ich würde auf dem Weg zur Beerdigung noch rasch beim Krankenhaus vorbeifahren, um ein paar Augenblicke mit Deborah zu verbringen. Ich hatte meine Liebe bereits auf einen anderen Menschen übertragen.
Der Arzt brachte es kaum über die Lippen. Es erforderte all seinen Mut, mir zu sagen, daß ihr Herz wenige Minuten vor meiner Ankunft aufgehört habe zu schlagen. Sogar der Chefchirurg war in Tränen aufgelöst. Als ich das Krankenhaus verließ, waren die Flure leer.
Ich möchte, daß Du weißt, Vater, daß ich Dich von ganzem Herzen liebe, doch ich habe nicht das Verlangen, ohne Christina und Deborah weiterzuleben.
Ich bitte nur darum, neben meiner Frau und meiner Tochter begraben zu werden, und darum, daß man mich als deren Ehemann und Vater in Erinnerung behält. Auf diese Weise könnten gedankenlose Menschen vielleicht etwas aus unserer Liebe lernen.
Und wenn Du diesen Brief zu Ende gelesen hast, dann vertraue darauf, daß ich im Zusammensein mit ihr solches Glück gefunden habe, daß der Tod mir keine Angst bereitet.
Dein Sohn Benjamin
Der alte Rabbi legte den Brief vor sich auf den Tisch. Er las ihn seit zehn Jahren jeden Tag einmal.
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