Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
«welche einzig in der gesamten hellenischen Literatur ist», zu erklären. Als Konsens kann heute festgehalten werden, dass die Nikomachische Ethik als das reife Werk anzusehen ist, in dem Aristoteles seinen ethischen Anschauungen gültigen Ausdruck verliehen hat. Ferner spricht eine große Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Große Ethik – was immer der Titel bedeuten mag – auf einen nacharistotelischen Peripatetiker zurückgeht, der aus der Eudemischen und Nikomachischen Ethik eine eigene Fassung hergestellt hat. Die Eudemische Ethik galt der Forschung des 19. Jahrhunderts ebenfalls als unecht, während die meisten Interpreten seit Werner Jaeger (1923) in diesem Werk mit unterschiedlicher Argumentation eine frühe Fassung des Aristoteles selber sehen.[ 1 ] Doch ist auch dagegen Skepsis angebracht. Es bleibt noch Vieles unklar.
Im Folgenden orientieren wir uns weitgehend an der Nikomachischen Ethik .
E THIK VOR A RISTOTELES
Aristoteles ist der Erste, der eine «Ethik» als abgegrenztes Teilgebiet der Philosophie verfasst hat. Auch seine Mitschüler in der Akademie (Speusipp, Xenokrates) und Nachfolger im Peripatos (Theophrast, Straton) haben im Wesentlichen nur Teilbereiche einer Ethik (Lust, Freundschaft usw.) zum Gegenstand von Abhandlungen gemacht.
Gleichwohl gab es von alters her ethische Ideale menschlichen Verhaltens in der Gesellschaft, die in der Dichtung reflektiert werden.[ 2 ] Im Vordergrund stehen zunächst die Tapferkeit, wörtlich: «Mannhaftigkeit»und Vortrefflichkeit in Verbindung mit Ruhm und Ehre, wie sie sich im Heldenideal manifestiert, das uns im homerischen Epos (ca. 700 v. Chr.) entgegentritt. «Immer der Beste sein und hervorragend von den anderen», so formuliert es Homer in der Ilias (VI 208). Eine Generation später kommt durch die Gestalt des Odysseus in der Odyssee mit der Klugheit ein heldisches Verhaltensideal auf, dessen Träger sich nicht nur durch Kraft und Stärke auszeichnen, sondern auch durch rationale Planung, zu der auch das Moment der bewussten Täuschung gehören kann. So hält Odysseus in der Odyssee nicht weniger als zwölf Trugreden, um ans Ziel zu gelangen. Erstmals wird sichtbar, was Klugheit vermag und bedeutet. Wenig später tritt bei Hesiod die Gerechtigkeit als Norm menschlichen Handelns hinzu, noch nicht in der substantivischen Formsondern in dem einfachen, auch in der Odyssee schon belegten Wort «Dike»und in der Wendung: «das Gerechte sagen» Erga 279). Mit dieser Handlungsmaxime ist bei Hesiod die Arbeit, genauer gesagt: die Landarbeit verbunden, nicht mehr kriegerisches Heldenideal. Ethische Maximen wie Recht, Fleiß, Gastfreundschaft, Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit werden auf den einfachen Menschen bezogen, lösen sich innerhalb der Dichtung dann auch von einer bestimmten Handlung und werden in Form an einander gereihter Mahnungen reflektiert. Mahnungen und Sprüche dieser Art blühen in der archaischen Dichtung. Ihre ethische Relevanz erhellt auch daraus, dass Aristoteles aus dem Schatze dieser Spruchweisheiten in seiner Ethik zitiert, so zum Beispiel die Verse Hesiods ( Erga 293–296):
Der aber ist der Allerbeste, der selber alles bedacht hat, der wohl überlegt, was später und bis zum Ende das Bessere ist. Edel ist aber auch jener, der einem gut Ratenden vertraut. Wer aber weder selber denkt noch auf einen Anderen hört und (dessen Rat) im Herzen bewegt, der ist ein ganz unnützer Mann (EN I 4, 1095 b 10–14).
Oder er zitiert das Epigramm, das auf dem Propylaion (Eingang) des Letotempels in Delos zu lesen war, um die Einheit der Tugend in ihren verschiedenen Teilaspekten zu betonen:
Am schönsten ist das Gerechteste, nutzbringend ist es, gesund zu sein, am erfreulichsten ist es, wenn jemand erreicht, was er erstrebt (EN I 1, 1099 a 27f.; EE I 1, 1214 a 5f.).
Derartige Mahnungen bestimmen weiterhin die Form, in der Recht und Gerechtigkeit gefordert und Ungerechtigkeit missbilligt werden, so in den Elegien Solons (um 600), in dem Ideal der «Wohlgesetzlichkeit»worin zum ersten Mal der Bezug ethischer Werte auf die Polis sichtbar wird, während in den etwa gleichzeitigen Gedichten des Theognis der Verlust der alten Werte als Inbegriff archaischer Adelsethik angesichts einer sozialen Nivellierung beklagt wird. Nehmen wir noch die in den Siegesliedern (Epinikien) eingebettete Gnomik des schon in das 5. Jahrhundert hineinragenden Pindar hinzu, so rundet sich das Bild einer archaischen, vorphilosophischen Ethik. In ihr schälen sich neben vielen
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