Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
einzelnen Mahnungen und Warnungen zur Lebensführung vier Kardinaltugenden heraus: Tapferkeit, Besonnenheit (gelegentlich mit Klugheit verknüpft), Gerechtigkeit und Frömmigkeit. Alle vier Tugenden finden sich in einem Vers der 467 v. Chr. aufgeführten Tragödie Sieben gegen Theben des Aischylos geradezu zusammengepresst, in dem es über den Seher Amphiaraos heißt, er sei ein «besonnener, gerechter, guter, frommer Mann» (610). Dieses Viererschema mit gewissen Variationen (hier: «gut» statt «tapfer») wirkt weiter; Platon widmet diesen Tugenden je einzeln einen Dialog ( Laches – Tapferkeit; Euthyphron – Frömmigkeit; Charmides – Besonnenheit; Staat – Gerechtigkeit) und behandelt alle zusammenhängend im Staat, und zwar in der Spezifizierung: Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit (IV 428 B – 434 A).
Die Hinwendung zu einer dieser Kardinaltugenden oder zur «Tugend» prinzipiell wird dann als bewusste Entscheidung für eine bestimmte Lebensform verstanden. Charakteristisch dafür ist die berühmte Geschichte über Herakles am Scheidewege, wie sie unter Berufung auf den Sophisten Prodikos (Frgm. B 2) der Sokratesschüler Xenophon (Mem. II 1, 21–34) erzählt. Herakles war an der Schwelle des Erwachsenseins vor die Alternative gestellt, ob er den Weg der Tugend oder des lustvollen Müßiggangs einschlagen soll. Es erscheinen ihm zwei Frauen, Personifikationen von Lasterund Tugenddie ihn für die jeweils von ihnen repräsentierte Lebensform gewinnen wollen. Natürlich entscheidet sich Herakles für den Weg der Tugend.
Parallel, zunächst noch nicht oder nur locker verbunden mit den ethisch orientierten Reflexionen über Tugenden als Normen für menschliches Verhalten, wird die im Grunde alte Frage nach dem Glück des Menschen reflektiert, und zwar hauptsächlich am Beispiel des Reichtums. Kann der mythische König Midas, der alles in Gold verwandelte, glücklich sein? Kann der historische König Kroisos aus Phrygien mit seinem unermesslichen Reichtum der glücklichste aller Menschen sein oder ist es, wie Solon, einer der Sieben Weisen, dem mächtigen Herrscher entgegnet, ein einfacher athenischer Bürger namens Tellos, der in der Polis seine Pflicht erfüllte, blühende Kinder hatte und ein ruhmreiches Ende fand, oder können die Jünglinge Kleobis und Biton glücklich genannt werden, die den Wagen der Herapriesterin von Argos in das ca. 10 km entfernte Heiligtum zogen und dann tot zusammenbrachen (Herodot I 30–32)?
Spätestens um die Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. laufen die beiden Fäden zusammen: Glücklich ist, wer die Tugenden (oder eine von ihnen) verwirklicht. An dieser Stelle ist eine Bemerkung zur Terminologie erforderlich. Aretéheißt wörtlich übersetzt «Bestheit», «Bestform». Wir übersetzen es mit «Tugend», wohl wissend, dass dabei Nuancen der Sittsamkeit des 18. und 19. Jahrhunderts mitschwingen. Was wir mit «Glück» übersetzen, heißt im Griechischen Eudaimoniaund ist nahezu unübersetzbar. Das Wort enthält den Bestandteil eu (d.h. gut) und Daimon (eine göttliche Macht). «Glücklich» in diesem Sinne ist einer, dessen Daimon es gut mit ihm meint, der mit dem Göttlichen, das in ihm wohnt, im Reinen ist. In dem Moment des Göttlichen liegt etwas, das – jedenfalls in der frühen Verwendung des Wortes – nicht ganz in der Hand des Menschen ist. Platon und Aristoteles gehen bei Beibehaltung der Terminologie darüber hinaus.
Die Anschauungen über ethische Werte in der archaischen Zeit erfahren eine radikale Umorientierung in der gegen Mitte des 5. Jahrhunderts aufkommenden Bewegung, die man Sophistik nennt, und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen gilt die «Tugend», oder besser: die Anlage für den Erwerb der Tugend nicht mehr als ererbt, nicht mehr als an einen Stand oder eine bestimmte Naturanlage gebunden, sondern als lehrbar und für jeden erlernbar, und zwar nicht durch Taten oder Vorbilder, sondern durch das Wort, durch die Kraft der Rede. Zum anderen birgt die Rede bei entsprechender Ausübung ein so ungeheures Kraftpotential in sich, dass sie in der Lage ist, «das schwächere Argument zum stärkeren zu machen» (Protagoras) und damit eine Relativierung aller Werte einzuleiten.
Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund sind die ethischen Anschauungen Platons (bzw. des platonischen Sokrates) zu sehen. Platon greift durchaus unter Verwendung der traditionellen Begriffe und Anschauungen (Tugenden, Glück usw.) auf die archaische Wertewelt
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