Aristoteles: Lehrer des Abendlandes (German Edition)
14).
Diese Zeilen sind Ausdruck einer inneren Nähe, die Aristoteles Platon gegenüber immer bewahrt hat, erkennbar an einer Warmherzigkeit des Tones, wie sie bei Aristoteles nicht oft zu finden ist. Zugleich ist die so persönlich klingende Bemerkung über die Freunde, die die Ideen eingeführt haben, literarisch stilisiert. Es ist eine Anspielung auf einen Passus, mit dem Platon im 10. Buch des Staates (595 BC) seine vornehmlich an Homer geübte Kritik an den Dichtern einleitet: «Eine gewisse Liebe und Ehrfurcht von Kindheit an» habe Platon Homer gegenüber bewahrt. Homer sei «der erste Lehrer und Wegbereiter für alle tragischen Dichter» gewesen. Auch in der Fortsetzung knüpft Aristoteles an Platon an. Bei Platon heißt es: «Man darf einen Mann nicht höher schätzen als die Wahrheit. Vielmehr muss, was ich zu sagen habe, gesagt werden.» Diesen Satz greift Aristoteles erkennbar auf, um die Aussage noch zu steigern. Später ist daraus das lapidare Dictum: «Amicus Plato, sed magis amica veritas» geworden («Platon ist ein Freund, aber eine größere Freundin ist die Wahrheit»), in der lateinischen Form zuerst belegt bei Roger Bacon im 13. Jahrhundert.
Die im Folgenden vorgetragenen Einwände gegen die Ideenlehre laufen darauf hinaus, dass eine Idee des Guten oder der Allgemeinbegriff «das Gute selbst» für die Beschreibung einer handlungsorientierten Ethik unbrauchbar sind. Kompliziert wird die Darlegung dadurch, dass Aristoteles anschließend einen offenbar aus dem Schulbetrieb erwachsenen Einwand gegen seine Kritik der platonischen Lehre diskutiert (1096 b 8: «Gegen das bisher Gesagte taucht ein Einwand auf» …), derart, dass die Idee des Guten sich im Sinne Platons nicht auf jede Erscheinungsform von «gut» beziehe, sondern nur auf die Güter, die um ihrer selbst willen erstrebt werden. Aristoteles trägt dem Einwand Rechnung und kommt schließlich auch dann zu dem Ergebnis, dass es «das Gute» als etwas Gemeinsames im Sinne einer einzigen «Idee» nicht gibt und wenn es das gäbe, es für das Handeln unbrauchbar wäre.
Im weiteren Verlauf schält sich allmählich heraus, was das «Glück» als Endziel menschlichen Strebens ist. Selbstverständlich beruht es nicht auf einer temporären Hochstimmung, auf irgendeiner Form von Wellness oder auf etwas, das einem in Passivität zufällt. Ein «Glückslos» gibt es nicht. Darin ist sich Aristoteles mit Platon auch ganz einig. Vielmehr ist die dem Menschen eigentümliche Leistung im Streben nach dem spezifisch menschlichen Guten eine Aktivität, Energeiawie Aristoteles es mit diesem von ihm geprägten (vorher nicht belegten), für seine ganze Philosophie zentralen Ausdruck bezeichnet. Näherhin ist diese Energeia – wörtlich: «am Werke sein» – auf das rationale Moment im Menschen, also auf die Seele, bezogen und so gelangt Aristoteles schließlich zu der Definition: «Das spezifisch menschliche Gut stellt sich dar als ein Tätigsein der Seele im Sinne der ihr eigenen Tüchtigkeit» (Tugend,und zwar, wie gleich hinzugefügt wird, «in einem vollen Menschenleben», denn «eine Schwalbe macht noch keinen Frühling» (I 6, 1098 a 16–18). Später (I 10, 1100 a 8) führt Aristoteles dafür als Beispiel den troischen König Priamos an, den im Alter ein schweres Unheil traf und den man demzufolge nicht glücklich nennen kann.
Damit ist eine erste Skizze in Rohform erarbeitet, und Aristoteles sagt selber, dass dann die weitere Ausarbeitung zu folgen habe, wobei «die Zeit für derartige Fragen eine Finderin und gute Mitwirkende» ist (I 7, 1098 a 24), womit Aristoteles einen Einblick in seine eigene Arbeitsweise gibt. In der Tat ist der ganze weitere Aufriss der Ethik eine Explikation und Erweiterung der hier gegebenen Definition. Das gilt insbesondere für die beiden Bestandteile der Definition «Seele» und «Tüchtigkeit» bzw. «Tugend».
Was den Begriff «Seele» betrifft, so nimmt Aristoteles – platonische Lehren modifizierend – eine Differenzierung der Seelenteile dahingehend vor, dass sowohl der irrationale als auch der rationale Teil noch einmal untergliedert werden. Beim irrationalen Teil wird unterschieden zwischen einem rein vegetativ-ernährenden Glied und einem begehrenden und strebenden, auf den rationalen Teil hinhörenden Glied, insoweit in Übereinstimmung mit Platon. Dann aber wird auch der rationale Teil unterteilt in ein «hinhörendes» Glied und den rationalen Teil im eigentlichen Sinne. Dabei fließen offenbar das
Weitere Kostenlose Bücher