Arkadien 01 - Arkadien erwacht
kam der Wagen zum Stehen.
Alessandro stieg aus. »Hab ich dir zu viel versprochen?«
Während sie noch fassungslos über das Lenkrad nach vorn starrte, kam er um den Wagen herum und öffnete ihr die Tür, nicht übertrieben galant, sondern ganz selbstverständlich. »Schau’s dir aus der Nähe an.«
»Aus der Nähe?«, murmelte sie. »Aber da ist nichts. Gar nichts.«
»Du musst nur genau hinsehen. Dann findest du, was du gesucht hast.«
Das klang fast, als wollte er ihr bei ihrer Suche nach der eigenen, sperrigen Magie dieses Ortes behilflich sein. Und sie begriff, dass er das Gleiche gedacht haben musste wie sie. Beim ersten Mal, als er diese Strecke ins Nirgendwo gefahren war, und vielleicht bei jeder neuen Rückkehr hierher. Auch heute wieder. Möglicherweise suchte jeder im Angesicht dieser Leere nach etwas, an dem er sich festhalten konnte. Alessandro vielleicht sogar noch ein wenig mehr als andere. In den letztenpaar Minuten hatte sie mehr Nachdenklichkeit, mehr Sehnsucht nach Antworten in ihm entdeckt, als sie für möglich gehalten hatte. Es fiel schwer, bei diesen Gedanken nicht ihn anzusehen, sondern den Blick wieder auf das zu richten, was vor ihnen lag.
Die unkrautbewachsene Piste endete an einer scharfzackigen Kante aus Asphaltspitzen, als wäre die Straße von einem gewaltigen Maul abgebissen worden. Dahinter öffnete sich ein tiefer Abgrund, hundert Meter oder mehr – eine breite Felsenschlucht, in deren schroffen Wänden unzählige Öffnungen klafften. Erst hielt Rosa sie für eine Laune der Natur, eine merkwürdige Struktur im porösen Gestein. Dann erkannte sie, dass es Höhlen waren.
»Gräber«, sagte Alessandro, »einige Hundert. Sie sind um die dreitausend Jahre alt. Die Sikuler haben sie angelegt, eines der Urvölker Siziliens. Sie sind irgendwann von den Arabern ausgerottet worden. Übrig geblieben sind nur ihre Nekropolen, die Städte ihrer Toten. Es gibt noch mehr davon auf der Insel und das hier ist nicht mal die größte. Die Pantalica-Schlucht unten im Süden ist –«
»Hältst du mal für einen Augenblick den Mund?« Sie meinte es nicht böse und er schien es ihr auch nicht übel zu nehmen. Aber sie konnte jetzt nicht mehr zuhören, musste einfach noch ein Stück weitergehen und diesen Ort allein mit eigenen Augen erobern, bevor sie sich irgendwelche Erklärungen anhörte.
Sie trat bis an die Kante vor, beeindruckt, aber nicht verängstigt von der Höhe und den Aufwinden, die von unten heraufjagten. Am Grund der Kluft lagen klobige Betontrümmer. Die Schlucht mochte einen halben Kilometer breit sein, womöglich mehr, und der gegenüberliegende Rand sah so schroff und zerklüftet aus wie dieser hier. Dahinter befanden sich Felsbuckel und Staubtäler, und irgendwo jenseits des Horizonts zweifellos wieder Spuren der Zivilisation. Im Augenblickaber schienen Alessandro und sie ganz allein auf der Welt zu sein.
»Die Brücke zur anderen Seite war das letzte Stück, das fertiggestellt wurde«, brach Alessandro das Schweigen. »Aber nachdem die Bauarbeiten eingestellt wurden, ordnete die Regierung an, dass die Brücke wieder verschwinden müsse. Die Firmen meines Vaters bekamen den Auftrag, zu zerstören, was sie gerade erst gebaut hatten. Danach aber fehlte der Provinzverwaltung in Enna das Geld für den Abtransport und darum blieb alles einfach so liegen, wie es vom Himmel gefallen war. Tausende Tonnen Beton, mitten in der Totenschlucht der Sikuler.«
In seiner Stimme schwang ein Respekt mit, der sie verblüffte. Er überraschte sie ein ums andere Mal und sie musste sich eingestehen, dass ihr das gefiel.
Sie ließ sich im Schneidersitz auf dem heißen Asphalt nieder und störte sich nicht daran, dass ihr Minikleid ein Stück zu weit nach oben rutschte. Die Kante der Schlucht lag keinen halben Meter vor ihr und immer wieder stießen Böen von unten empor, um sie in die Tiefe zu ziehen. Sie war stark genug, dem Drang zu widerstehen.
Alessandro nahm neben ihr Platz und spreizte die Finger auf dem Asphalt. Es sah aus, als spürte er etwas darunter, das Herz dieses geheimen Ortes. Plötzlich fühlte sie es auch, pochend wie ihr eigenes.
»Du glaubst nicht wirklich, dass es ein Traum war, oder?«, fragte er unvermittelt.
»Die Schlange und der Tiger?«
Er nickte.
»Und wennschon. Das hat nichts zu bedeuten.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Ich war fast ein Jahr lang in Therapie.« Wie leicht es fiel, das auszusprechen. Vielleicht gerade, weil sie ihn kaum kannte. »Da reden
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