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Arkadien 01 - Arkadien erwacht

Titel: Arkadien 01 - Arkadien erwacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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andere Spur von Leben. Nur sie beide, ihr Wagen und eine vergessene Straße ins Nirgendwo.
    »Wohin führt die?«
    »Ans Ende der Welt«, sagte er.
    Und damit behielt er Recht.

Das Ende der Straße
    R osa konnte nicht so schnell fahren, wie sie wollte. Der Asphalt war von Rissen durchzogen. An manchen Stellen hatte er sich aufgewölbt, weil eine winzige Pflanze eine Öffnung ans Tageslicht gefunden hatte und hundert andere nach sich zog. Es lag etwas Beunruhigendes in der Gewissheit, dass unter dem toten grauen Band so viel Leben brodelte, begierig darauf, seinen Kerker zu sprengen und in die Freiheit auszubrechen.
    »Was ist das hier?«, fragte sie.
    »Eine Autobahn, die nie fertiggestellt worden ist. Das sollte mal eine Verbindung werden zwischen der A 19, die quer durchs Inland führt, und der A 20 oben an der Nordküste. Mein Vater hat den Auftrag an Land gezogen und dann seine Bautrupps auf diese Gegend losgelassen – bis eine neue Regierung in Rom das Ganze gestoppt hat.«
    »Und nun bleibt alles einfach so, wie es ist?«
    »Den fertigen Teil wieder wegzureißen würde fast so viel kosten wie der gesamte Bau. Siziliens Provinzen haben kein Geld. Vor Jahren gab es Protestaktionen, aber die Organisatoren sind irgendwann weitergezogen, zum nächsten Skandal, zur nächsten Bauruine, die irgendwen reich gemacht hat.«
    »Nicht irgendwen. Euch.«
    Er sah stur geradeaus. »Meine Familie. Ja.«
    Sie konzentrierte sich wieder auf die Fahrbahn, starrte auf das hässliche, nutzlos gewordene Bauwerk vor sich – und stellte plötzlich fest, dass es ihr hier gefiel. Es lag wohl an der Tatsache, dass so etwas wahrscheinlich nirgendwo sonst existierte – der Reiz lag in der vollkommenen Einzigartigkeit dieses Ortes. Natürlich gab es auch anderswo aufgegebene Straßen. Aber vor ihr erstreckten sich Kilometer um Kilometer leerer Asphalt, über die außer Planierraupen kaum jemals ein Auto gefahrenwar. Eine kolossale Totgeburt, die ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagte.
    »Und darunter?«, fragte sie.
    »Was meinst du?«
    »Ist das hier nur eine Autobahn, die niemand braucht, oder ist unter ihr auch etwas entsorgt worden?«
    Er hatte sie sofort verstanden, davon war sie überzeugt, und es sprach für ihn, dass da eine Spur von Scham war, die ihn zögern ließ, über diesen Teil des familiären Gewerbes zu sprechen.
    »Davon weiß ich nichts«, sagte er, »und das ist die Wahrheit.«
    »Ich habe euren See gesehen. Die Staumauer.«
    Er machte eine wegwerfende Geste. »Diese Geschichte? Davon ist kein Wort wahr.«
    »Und das hat dir wer gesagt?«, fragte sie verächtlich. »Dein Vater?«
    Er presste die Lippen aufeinander und schwieg. »Wir Kinder der Clans«, sagte er schließlich, »werden vom ersten Tag unseres Lebens an belogen. Wenn unsere Mütter und Väter uns so was wie ein ganz normales, glückliches Familienleben vorspielen – dann ist das die erste große Lüge und danach hört es einfach nicht mehr auf. Das Gefühl, das sie uns geben – alles sei wie bei anderen Menschen, anderen Familien. Dabei ist nichts wie bei anderen.« Er rutschte unruhig auf dem Beifahrersitz hin und her. »Wenn wir selbst irgendwann alt sind und Kinder haben und Enkel, dann werden wir immer noch auf Dinge stoßen, die wir gar nicht für möglich gehalten haben. Auf –« Er zögerte.
    »Verbrechen«, schlug sie mit einem Achselzucken vor.
    »Auf Geschäfte. Mit allen Konsequenzen, die nötig waren und die alles übersteigen, was wir uns vorstellen können. Und unseren Kindern und Enkeln wird es genauso ergehen – weil wir bis dahin jeden Maßstab für unser eigenes Handeln verloren haben und gar nicht mehr erkennen, dass wir kein bisschen besser sind als unsere Väter und Großväter.«
    Sie fuhr langsamer und sah zu ihm hinüber. »Und ich dachte, ich bin Pessimistin.«
    »Wir werden in dieses Leben hineingeboren. In die Clans und ihre Ordnung. Wir haben es uns nicht ausgesucht, oder?«
    »Ich hätte in den Staaten bleiben können.« Sie überlegte kurz. »Du übrigens auch.«
    »Ich glaube nicht, dass die Geschichten um Giuliana und den Staudamm wahr sind«, sagte er ungerührt. »Aber weiß ich es? Und weiß ich, was ich vielleicht mal herausfinden werde, womöglich nur durch Zufall, in irgendeinem alten Aktenordner oder sonst wo?«
    Sie dachte noch darüber nach, als sich der Horizont mit einem Mal verkürzte und näher kam. Sie fluchte leise, nahm den Fuß vom Gas und bremste. Keine zwanzig Meter vor dem Ende der Welt

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