Arkadien 01 - Arkadien erwacht
sie dir ein, dass nichts von dem real ist, was du siehstund hörst. Nichts von den interessanten Dingen. Ganz gleich, was du glaubst oder nicht glaubst: Alles nur in deinem Kopf, sagen sie. Alles nur, weil du verrückt bist.«
»Aber du bist nicht verrückt«, sagte er.
»Ich könnte so irre sein wie nur sonst wer und du hättest keine Ahnung davon. Eine Axtmörderin. Fucking-Freddy-Krueger aus deinem schlimmsten Albtraum.« Sie wandte langsam den Kopf und musterte ihn. Sein schönes, offenes Gesicht, das innerhalb eines Augenblicks düster und verschlossen sein konnte. Den Schwung seiner Lippen. Seine grünen Augen, deren Blick ein wenig zu tief in sie drang, ohne dass sie sich dagegen wehren konnte.
Es hätte so einfach sein können. Nur war sie eben sie, und einfach lag in ihrem Fall auf der anderen Seite des Globus. Irgendwo hinter Australien am Südpol.
Sie hatte Probleme mit zu großer Nähe. Und sie konnte sich selbst nicht mehr vertrauen, ganz zu schweigen einem anderen. Sie wich Begegnungen und Gesprächen aus, ohne zu wissen, warum. Innerlich war sie so verdreht und verknotet wie einer der wilden Olivenbäume auf dieser Insel.
Sie war ein Albtraum, vor allem ihr eigener, und alles in ihr schrie danach, sofort die Schutzwälle hochzufahren und die Tore zu verbarrikadieren.
Es wäre nur fair gewesen, ihm das zu sagen. Ihm auf der Stelle klarzumachen, dass sie die Scheißtitanic war, deren Sog ihn mitreißen würde, wenn er nicht schnell genug ins Rettungsboot sprang und das Weite suchte.
Stattdessen beugte er sich vor, um sie zu küssen.
Sie wartete. Zögerte. Dann zog sie den Kopf zurück, bevor sich ihre Lippen berühren konnten. Einen Herzschlag lang sah er verletzt aus, aber dann lächelte er, blinzelte in die Sonne und sagte: »Wenn es so weit ist, dann will ich dabei sein.«
»Wenn was so weit ist?«
»Wenn du allen anderen nicht mehr in die Augen schaust,als hätten sie dir gerade den Krieg erklärt. Und wenn du merkst« – er deutete nach vorn über die Schlucht –, »dass manches zwar aussieht wie das Ende der Welt, sie in Wahrheit aber weitergeht, drüben auf der anderen Seite. Vielleicht ist nur ein ziemlich großer Schritt nötig, um dorthin zu gelangen.«
»Ich bin im Augenblick ziemlich froh über jeden kleinen Schritt, den ich hinbekomme, ohne zu stolpern.« Sie sprach leise, fast zu sich selbst. »Deshalb bin ich nach Sizilien gekommen. Stillstand hatte ich lange genug.«
Er sah sie nur an und nickte nachdenklich. Er wusste, wann es besser war zu schweigen, und auch dafür mochte sie ihn.
»Themenwechsel?«, schlug sie vor.
Er hatte es wohl kommen sehen. »Iole?«
Sie nickte, sprang auf und streckte ihm eine Hand entgegen. »Wir erledigen das selbst. Nur du und ich. Wir holen sie da weg.«
Er umfasste ihre Finger, aber nicht, damit sie ihn auf die Beine zog, sondern offenbar nur, weil er sie berühren wollte, und sie wollte das ja auch, viel zu sehr, und dann stand er da, direkt vor ihr, neben ihnen der Abgrund, und sie roch seine Haut und sein Haar und ließ seine Hand los, auch wenn sie insgeheim etwas ganz anderes wollte.
»Jetzt gleich?«, fragte er.
Sie nickte.
Regenschatten
D ie Isola Luna stieg aus dem Meer, gehüllt in ein Kleid aus graublauem Nebel. Am Himmel glühten die ersten Sterne und eine Weile lang hatten die beiden am Bug der Jacht gesessen und nichts anders getan, als nach dem nächsten hellen Punkt in der Dunkelheit zu suchen.
Von Zeit zu Zeit berührten sich ihre Blicke, nur kurz, um gleich darauf wieder zum Horizont zu wandern.
Nach einer Weile hatte Rosa wieder zu sprechen begonnen. Über New York während der ersten Herbststürme und das Laub in den Straßen rund um die Parks. Über die Mütter mit ihren dick verpackten Kindern am Belvedere Lake, eingemummelt in ihre Schals und Mützen und gefütterten Kapuzen.
Dann sagte sie: »Vor einem Jahr habe ich meinen Sohn getötet.«
Sie war nicht sicher, warum sie davon anfing. Um ihn herauszufordern? Um eine der üblichen Reaktionen zu provozieren, Erschrecken oder Mitgefühl oder stotternde Unsicherheit? Damit sie ihn abhaken konnte als einen von ihnen , einen von den anderen?
Er blickte zu dem Felsbuckel im Norden, der langsam größer wurde. »Wie hieß er?«
Niemand hatte sie das jemals gefragt. Weil abgetriebene Kinder keine Namen haben. Eigentlich auch kein Geschlecht. Weil sie nur Gewebe sind, roter Schleim in Schläuchen und Glaszylindern.
»Nathaniel«, sagte sie.
»Ziemlich
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