Arme Milliardäre!: Der große Bluff oder Wie die amerikanische Rechte aus der Krise Kapital schlägt
erbrachte »Leistung« gewesen oder Anerkennung dafür, wie weit finanzielle Innovationen das Land vorangebracht hatten – die Boni bemaßen sich schlicht nach dem, was sich die Leute an der Wall Street unter den Nagel reißen konnten. Der Bonus-Skandal bei AIG wurde so zum Symbol für den gesamten Krisen-Bailout-Skandal und verschärfte den allgemeinen Vertrauensverlust.
Die öffentliche Empörung entlud sich wie ein Vulkan, und sie steigerte sich von Tag zu Tag. In einem Bloomberg-Artikel vom 18. März hieß es, »die Amerikaner wollen Köpfe rollen sehen. Sie rufen bei National Public Radio an, um AIG ›unbewaffneten legalisierten Raub‹ vorzuwerfen. Sie verlangen, dass CNN die Fotos der AIG-Manager in der Rubrik ›Amerikas meistgesuchte Verbrechen‹ veröffentlicht.«
Das Feuer sprang rasch auf etablierte, wirtschaftsfreundliche Demokraten über. Chris Dodd, Senator von Connecticut, hatte AIG stets die Stange gehalten, erinnerte man sich nun voller Zorn. Präsident Obama höchstpersönlich hatte Wahlkampfhilfe von Managern des Unternehmens erhalten. Und Larry Summers, der einst dem »Komitee zur Rettung der Welt« angehörte und nun Direktor des Nationalen Wirtschaftsrats (NEC) war, hielt es für angemessen, die Amerikaner in dieser Situation über das Gesetz und die Heiligkeit von Verträgen zu belehren. Hochnäsigkeit dieser Art machte alles nur noch schlimmer.
Newsweek
veröffentlichte eine »Anleitung zum Volkszorn für denkende Menschen«, die die Reaktion auf die AIG-Boni als Neuauflage der Stimmung während der Weltwirtschaftskrise schilderte. Präsident Obama erhielt den Ratschlag, diese Geschichte möglichst nicht hochkochen zu lassen. Wie in den Dreißigerjahren fegte wieder ein Sturmwind von Klassengegensätzen über das Land, und die Dinge konnten leicht außer Kontrolle geraten. [10]
Obama höchstpersönlich überbrachte diese Warnung Wall Street. Einer Delegation von Wall-Street-Bankern sagte der neue Präsident im April 2009: »Meine Regierung ist das Einzige, was zwischen Ihnen und den Mistgabeln steht.«
Die Welt auf den Kopf gestellt
Hier und da schienen die Mistgabeln tatsächlich aufzublitzen. Doch die Wall Street hatte von ihnen nichts zu befürchten. Nur wenige Elementedes Drehbuchs der schlechten Zeiten überdauerten die ersten Monate des Abschwungs. Die Arbeiter radikalisierten sich nicht, obwohl es in einigen Bundesstaaten erhebliche Bemühungen gab, die Gewerkschaften auszuschalten. Auch die vielen, deren Häuser der Zwangsvollstreckung anheimfielen, probten nicht den Aufstand, dafür wurde die Hilfsorganisation ACORN, die unter anderem auch Randgruppen zum Eigenheim verhelfen sollte, nach einer erfolgreichen Kampagne aufgelöst. Die »Occupy Wall Street«-Bewegung sollte erst zwei Jahre später zum Leben erwachen.
Zu dieser Zeit waren die Vergütungen an der Wall Street bereits wieder auf dem alten Niveau. Im April 2011 zeigte die Zeitschrift
New York
auf dem Titelbild das Foto eines zufriedenen jungen Investmentbankers, der dem Betrachter herausfordernd ein Bündel Hundertdollarscheine entgegenhielt. »Wall Street hat gewonnen«, lautete der höhnische Titel. Man hatte sich eine Weile zurückgehalten, der Welt unter die Nase zu reiben, was man sich so zusammenstahl, aber nun waren die Tage, in denen man in Sack und Asche gegangen war, vorbei. Die Rüpel waren wieder von der Leine.
Doch der Volkszorn vom März 2009 war nicht völlig erloschen. Er glimmte in tausend Versammlungen der Tea Party überall im Land weiter. Im April gab es in Städten jeder Größenordnung Veranstaltungen der Tea Party, und während des ganzen Sommers wurde unseren Volksvertretern in Bürgerversammlungen eingeheizt. Im Herbst dieses Jahres marschierten Hunderttausende auf der National Mall in Washington, im folgenden Frühjahr standen sie vor dem Kapitol, und im August 2010 erhoben sie vor dem Lincoln Memorial Anspruch auf das Erbe von Martin Luther King.
Das Gefühl, dass dem einfachen Amerikaner Unrecht geschah, ließ bei den Protestierenden ebenso wenig nach wie ihr Zorn auf die Eliten. Sie schimpften in guter demokratischer Tradition auf die Großen und Mächtigen und zitierten dazu die Gründerväter Jefferson, Franklin und Thomas Paine. Manche unterstrichen dies durch die gepuderten Perücken der Revolutionszeit oder schwenkten die sogenannte »Gadsden-Flagge« mit der sich drohend aufrichtendenKlapperschlange und dem warnenden Schriftzug »Tritt nicht auf mich«, ebenfalls ein Symbol der
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