Armee der Toten
Sitzfläche. Das war genau das, was Jarolin benötigte, und einige Wodkas hatte er schon gekippt. Nach wie vor saß er sicher, aber der Ausdruck seiner Augen hatte sich verändert. Er näherte sich dem glasigen Stadium.
Als er wieder zur Flasche griff, stand der Wirt plötzlich vor ihm und schaute ihn an.
»He...«
»Was ist?«
»Die halbe Flasche ist leer.«
»Na und?«
»Du solltest aufhören.«
Jarolin lachte. »Seit wann bist du so besorgt um mich?«
»Weil ich dich noch länger als meinen Gast behalten will. Ich will nicht, dass du dich totsäufst. Ich schätze, dass sich deine Leber sowieso schon verhärtet hat.«
»Dann saufe ich eben auf der Milz weiter.«
»Dein Problem.«
Jarolin hob seinen Blick und richtete sich auf dem Hocker auf. Er sah einen Mann mit Fusselbart vor sich, der seine Glatze unter einer flachen Strickmütze verborgen hatte. Das Gesicht war grau, faltig, und Jarolin kannte ihn eigentlich nur mit seinem feuchten Mund.
»Gut, einen Letzten.«
»Der sei dir gegönnt.«
Der Wirt selbst schenkte den Schnaps ein, und er füllte das Wasserglas auch nicht zu hoch voll.
»Was macht deine Schwester?«, fragte Jarolin.
»Ist noch im Krankenhaus.«
»Scheiße.«
Der Wirt winkte ab. »Sie kommt in zwei Tagen zurück. Dann wird sie mich wieder unterstützen.«
»Sei froh, dass du sie hast.«
»Bin ich auch.«
»Ich hocke allein.«
Der Wirt lachte. »Deine Schuld. Es gibt genug Frauen, die darauf warten, einen Mann zu bekommen.«
Jarolin trank die Hälfte des Schnapses. »Ja, die gibt es tatsächlich. Aber ich will nicht. Wenn ich mal was brauche, hole ich mir eine für eine Nacht. Damit hat es sich.«
»Wenn du so zufrieden bist.«
»Bin ich.«
»Und deine Arbeit?«
Jarolin schaute wieder hoch. »Die läuft. Ich habe noch immer zu tun. Und das wird auch so bleiben. Du glaubst gar nicht, was es in einem Archiv alles aufzuräumen, zu sortieren und zu speichern gibt. Das ist Wahnsinn. In der Vergangenheit hat sich einiges angesammelt. Diese Stadt hier war und ist ein richtiges Sammelsurium. Da ist es schwer, den Überblick zu behalten.«
»Sei froh, dass du die Arbeit hast.«
»Bin ich auch.« Er trank den Rest aus dem Glas und stieß danach säuerlich auf. Er ließ den Wirt im Glauben, bei der Stadt angestellt zu sein, seine wahre Tätigkeit und wer ihn und auch die Miete für die Wohnung bezahlte, wollte er nicht bekannt geben.
Die Tür wurde aufgestoßen. Zwei ältere Frauen betraten die Kneipe. Sie brachten nicht nur Durst mit, sondern auch die Kälte von draußen. Beide waren Geschwister. Unverheiratet. Lebten zusammen und besaßen auch eine gemeinsame Arbeitsstelle. Beide verdienten ihr Geld in einem Heim für Veteranen. Einmal in der Woche kamen sie und ließen sich voll laufen. Immer dann, wenn sie am nächsten Tag freihatten.
Jarolin kannte sie. Mehr als einmal hatte er mit ihnen gesprochen, und sie waren ihm stets auf den Wecker gefallen, denn sie hörten einfach nicht auf, zu erzählen. Sie redeten in einer Tour und immer nur von ihrer Arbeit. Das konnte man sich nicht anhören.
»Ich zahle.«
»Gut.«
Jarolin griff in die Tasche, zählte Rubel ab, legte sie auf die Theke und rutschte vom Hocker. Er stand zwar noch gerade, aber seine nächsten Schritte waren schon schwankend, und so steuerte er auch die Tür an. Er wollte weg, auch wenn er sich auf seine Wohnung nicht eben freute. Der Wodka hatte ihn müde gemacht, und vielleicht sorgte er auch dafür, dass die Gedanken nicht mehr verrücktspielten und er den kleinen Soldaten vergaß.
Der kalte Nordostwind war schneidend. Er biss in die Gesichtshaut. Aus der Tasche holte Jarolin seine Mütze und zog sie bis über die Ohren hinweg. Den Schal hatte er vergessen, und so stellte er den Kragen seiner hüftlangen Jacke hoch, um sich wenigstens etwas vor dem scharfen Wind zu schützen.
Die Straßen in diesem Viertel waren in der Nacht leer. Besonders im Winter, wenn es kalt war. Alte und neue Häuser standen zusammen und bildeten kompakte Blöcke. Die älteren hatten den Zweiten Weltkrieg überstanden, aber die neueren sahen auch nicht viel besser aus. Plattenbauten als Wohnsilos. Wohl fühlen konnte sich darin kaum jemand. Alle jedoch waren froh, wenigstens eine Wohnung zu besitzen. Da wurde kein Wert auf großen Komfort gelegt.
Weit hatte er es bis zu seiner Bleibe nicht. Jarolin musste um drei Ecken gehen. Unterwegs kam er an einer dunklen Limousine vorbei, in der vier Männer hockten. Er ging schneller und warf
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