Armee der Toten
auch keinen zweiten Blick hinein. Wer in der Dunkelheit in einem Wagen hockte und wartete, der hatte meistens nichts Gutes im Sinn.
Zwei Minuten später hatte er sein Haus erreicht. Ein »neues« Gebäude. Eben ein Plattenbau, in dem er bis zur vierten Etage musste. Es gab keinen Lift. Ihn einzubauen hätte auch nicht viel gebracht. Er wäre immer sehr schnell außer Gefecht gesetzt worden, und so schleppte man sich eben – ob Alt oder Jung – die Treppen hoch.
Es hatte auch keinen Sinn, die Haustür abzuschließen. Irgendeiner vergaß den Schlüssel immer, und dann trat er vor Wut die Tür ein.
Im Sommer lungerten oft Gestalten vor dem Haus herum. In dieser Nacht war alles leer. Keiner hockte in der Türnische. Aus nur wenigen Fenstern fiel blasses Licht. Stimmen waren nicht zu hören, da alle Fenster geschlossen waren.
Der Weg durch die kalte Nachtluft hatte Jarolin gut getan. Er fühlte sich fast wieder nüchtern. Nur der miese Geschmack in seinem Mund war geblieben, doch auch der war ihm nicht neu. Nur der Weg in die vierte Etage würde ihm nicht leicht fallen, das wusste er.
Brannte das Licht?
Es war immer ein Ratespiel. Mal funktionierte es, mal nicht. Er hoffte, dass er nicht im Dunkeln hochstiefeln musste, und hatte tatsächlich Glück. Es gab Licht, doch nicht alle Lampen im Hausflur brannten. Ungefähr die Hälfte von ihnen erhellte sich.
Wonach es im Flur roch, wusste er nicht. Es roch immer. Und manchmal stank es sogar. Es gab Typen, die in den Flur kotzten oder die auch ihre Notdurft verrichteten, aber in dieser Nacht hatte er Glück und konnte die schmutzigen Steinstufen hochgehen.
Dabei gehörte das Haus noch zu den privilegierten Blöcken. An der Vorderseite gab es Außenbalkone. So jedenfalls war die Galerie genannt worden, die sich an der Front entlangzog. Keine Wohnung besaß einen eigenen Balkon. Man konnte nur durch die Wohnungstür auf die Galerie treten und nach draußen schauen. So hatte der Mieter auf der vorderen Seite einen Bonus an Freiheit.
Vier Etagen. Nach der dritten benutzte Jarolin das Geländer als Stütze. Um auf die Galerie zu gelangen, musste er eine Eisentür öffnen. Sie besaß kein Schloss. Sie fiel einfach nur zu oder stand offen. Natürlich war sie beschmiert worden, und was dort an Sprüchen zu lesen stand, gehörte in die Schublade ganz, ganz unten.
Vor der Tür gab es kein Licht, aber die letzte Lampe reichte aus. Der Mann fand den Knauf und zog die schwere Tür auf.
Sofort packte ihn der Wind. Im Sommer war es ja ganz angenehm, auf dem Balkon zu stehen, im Winter aber hatte man oft genug den Eindruck, in einem Eiskeller zu stehen.
Dabei war es noch nicht richtig kalt geworden. Es lag allein am Wind. Auf der Galerie gab es ebenfalls Lampen. Sie waren meist über den Wohnungstüren angebracht, aber in dieser Nacht gab es nicht ein Licht. So musste Jarolin im Dunkeln weiter, was ihm nichts ausmachte. Bis zur fünften Tür musste er gehen.
Er hielt sich dabei dicht an der Hauswand, da hier der Wind nicht so stark war. Am Geländer wehte er kräftiger. Der Handlauf war oben auf der Betonmauer befestigt und vom Rost zerfressen. Wer mit der Hand darüber hinwegschabte, riss sich die Haut auf.
Vor seiner Tür blieb er stehen. Gesichert war sie mit einem Schloss, das nicht zu leicht zu knacken war. Der Zylinder schaute nicht hervor, und um es zu öffnen, brauchte er einen Spezialschlüssel. Natürlich kam man immer in seine Wohnung hinein, man musste es nur wollen, aber jeder Einbrecher bekam Probleme.
Er blieb vor der Tür stehen, beugte den Kopf nach vorn und musste zunächst mal rülpsen. Der Geschmack in seinem Mund verschlimmerte sich, und auf der Zunge lag ein bitterer Geschmack. Mit einer zielsicheren Bewegung holte Jarolin den flachen Schlüssel aus der Tasche und wollte ihn ins Schloss stecken, als er plötzlich innehielt.
Etwas störte ihn.
Sein rechtes Hosenbein bewegte sich an der Seite.
Zunächst dachte er, dass es am Wind gelegen hätte, aber das stimmte auch nicht, denn der Wind zupfte nicht an seiner Hose.
Jarolin schaute nach unten.
Seine Augen weiteten sich. Aus seinem Mund drang ein röchelnder Laut. Er wusste jetzt, wer ihn am Hosenbein gezupft hatte.
Nicht der Wind, sondern der kleine Soldat!
***
Er war wirklich klein und wirkte sogar noch kleiner, wenn jemand von oben auf ihn herabschaute. Aber er war da, und genau das schockte den Russen. In den ersten Sekunden bewegte er sich nicht. Er hoffte, dass ihm seine Fantasie einen Streich
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