Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
jeweils anderen Farbwahrnehmungen gefunden. Dennoch gibt es keinen Zweifel daran, dass wir während eines Spaziergangs Erfahrungen miteinander teilen und uns über unsere Wahrnehmungen austauschen können.
Bei jeder Interpretation einer fremden Psyche ist also die Möglichkeit und Fülle von Missverständnissen geradezu erschreckend – doch jeder, der überhaupt mit anderen kommuniziert, weiß, dass Kommunikation eben zu einem nicht unbeträchtlichen Teil daraus besteht, Missverständnisse durchzuarbeiten. Man sollte daher nicht vorschnell behaupten, dass jede Interpretation tierischen Verhaltens zum Scheitern verurteilt ist – und nicht einmal, dass jeder Vergleich mit menschlichem Empfinden automatisch falsch sein muss. Es wäre höchst sonderbar, wenn von Spezies zu Spezies das Spektrum des Empfindens völlig unterschiedlich wäre. Das würde nämlich bedeuten, dass die Evolutionpraktisch mit jeder neuen Spezies die Welt der Nerven und des Bewusstseins und der Affekte neu erschaffen hätte, was ein ungeheurer Aufwand gewesen wäre und unserer sonstigen anatomischen und physiologischen Verwandtschaft vollkommen zuwiderliefe.
«Das allgemeine Argument gegen Anthropomorphismus kann in einer post-darwinistischen wissenschaftlichen Welt nicht aufrechterhalten werden», schreibt daher die Wissenschaftstheoretikerin Sandra D. Mitchell.[ 13 ] Darwin selbst zeigt in seinem Buch
Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren,
dass der körperliche (und mimische) Ausdruck von Gefühlen bei Menschen und anderen sozialen Tieren letztlich denselben Ursprung hat. Erst nach Darwin hat sich ein gewisser biologischer Skeptizismus durchgesetzt, der die Grenze zwischen Mensch und Tier überbetonte[ 14 ] und der seit einigen Jahrzehnten wieder abklingt.[ 15 ]
Der Vorwurf des Anthropomorphismus taugt in seiner pauschalen Form genauso wenig wie die schlichte Behauptung: «Aber ich weiß doch genau, was mein Tier fühlt!» Nein, wir wissen es natürlich nicht immer genau (ebenso wenig übrigens bei Menschen). Aber das heißt nicht, dass Verstehen unmöglich ist. Es gibt eben sehr unterschiedliche Grade und Methoden des Verstehens. Eine große Bandbreite liegt zwischen dem beinah unmittelbaren Mitempfinden – etwa beim Trinken der Vögel oder bei dem Vergnügen rutschender Schweine – und dem vollkommen abstrakten Verstehen dessen, wieso sich ein Schmetterling von bestimmten Lichtmustern einer Blüte täuschen lässt oder was es über die Rangordnung der Paviane aussagt, wenn sie einander das Fell pflegen. Keine Form des Verstehens ist besser oder schlechter als die anderen, man muss nur wissen, wo die jeweiligen Grenzen und Möglichkeiten liegen.
Die Asymmetrie des moralischen Universums
Wir nehmen die Welt also nicht nur aus jeweils eigenen Augen wahr, wir wissen auch: Es gibt schier unendlich viele weitere Subjekte in dieser Welt. Doch nicht alle von ihnen sind sich dessen bewusst, dass sie Subjekte sind. Ein fühlendes Lebewesen muss nicht unbedingt in einem abstrakteren Sinne wissen, was es fühlt. Nicht einmal,
dass
es fühlt. Auch nicht, dass andere fühlen.
So gesehen ist meine bisherige Ausdrucksweise etwas unscharf gewesen, denn eigentlich gibt es zwei Gruppen von empfindungsfähigen Lebewesen: Die eine umfasst alle Wirbeltiere mit bewussten Empfindungen. Die zweite Gruppe ist nur eine Teilmenge davon und umfasst jene, die sich auch des Faktums bewusst sind,
dass
sie ein Bewusstsein und Empfindungen besitzen. Im Grunde rührt das Problem nur daher, dass mit den Begriffen «Ich», «Ich-Bewusstsein», «Selbst» und «Selbstbewusstsein» je nach Kontext Unterschiedliches gemeint ist.
Mit «Ich-Bewusstsein» ist hier gemeint: dass jemand weiß, dass er oder sie ein Ich ist. Meine Katze zum Beispiel weiß das wahrscheinlich nicht. Sie hat ein ausgeprägtes Gefühl für Mein und Dein (insbesondere gegenüber einem gewissen schwarzen Kater); sie weiß, was sie will und wann sie es will. Manchmal auch nicht. Dann sitzt sie halb und halb auf der Türschwelle, während vor ihren Schnurrhaaren Schneeregen vom Himmel weht, und sie «denkt»: Will ich raus oder bleib ich drinnen? Aber sie denkt dies eben auf Katzenart. Sie besitzt nicht die Sorte von Sprache, in der Sätze gebildet werden, und sie verfügt weder über das Wort noch über das distinkte Konzept «Ich» oder «Selbst». Sie besitzt Bewusstsein, aber höchstwahrscheinlich kein Bewusstsein ihrer selbst
als Selbst.
Und nicht nur Tiere, auch
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