Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (Beck'sche Reihe / Beck Paperback) (German Edition)
konnten und sich an einem Hang, wo etwas Wasser floss, eine Art Rutsche «gebaut» hatten. Sie warfen sich mit sichtlichem Vergnügen oben in den Matsch, strampelten, bis sie in Bewegung kamen, rutschten den Hang hinab und rannten wieder nach oben. (Fast zeitgleich wurde berichtet, dass ein holländischer Landwirt seinen Schweinen eine gelbe Plastikrutsche vom Sperrmüll geholt und neben ihre Suhle gestellt hatte. Die dortigen Schweine – ohnehin «Ausnahmeschweine», weil sie überhaupt herumlaufen und sich suhlen können – schienen auch diese Rutsche zu mögen.)
Ich habe von «sichtlichem Vergnügen» geschrieben, weil diese Schweine sich zweifellos nicht nur suhlen, also die Haut zwecks Kühlung, Reinigung und Parasitenabwehr mit Schlamm einreiben, sondern den Kitzel des Herunterrutschens suchen und genießen. Mir fällt schlicht keine andere Möglichkeit ein, das Verhalten dieser Schweine sinnvoll zu beschreiben, ja, ich fände es geradezu albern zu leugnen, dass wir uns vorstellen können, welchen Spaß sie da haben. Wer diese Beschreibung vermenschlichend findet, müsste bitte eine plausiblere, «biologischere» Erklärung abgeben, was die Schweine da machen und warum. Pauschal den Vorwurf des Anthropomorphismus anzubringen und darauf zu verweisen, dass Schweine völlig anders seien als wir Menschen, wirkt auf mich nicht besonders aufrichtig. Gewiss, wir wissen nicht, wie es ist, vier Beine, Rüssel und Ringelschwänzchen zu haben; insofern wissen wir nicht vollständig, aberdoch
in relevanter Hinsicht,
wie es ist, als Schwein einen Hang hinabzurutschen.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich will natürlich nicht behaupten, dass wir allein durch Tierliebe und amateurmäßiges Zugucken ein umfassendes Verständnis anderer Spezies erreichen können. Der Verhaltensforschung stehen für ihre ethologischen Beobachtungen im Freiland (und leider auch im Labor) Methoden zur Verfügung, die Rückschlüsse auf die kausalen Ursachen bestimmter Verhaltensweisen erlauben, die anders niemals zu gewinnen wären. Umgekehrt aber gibt es auch wissenschaftliche Studien zum Verhalten, die so viel Distanz zu ihrem Untersuchungsgegenstand beweisen, dass es schon wieder absurd ist. Manchmal werden mit unglaublichem Aufwand Apparate gebaut, die Offensichtliches belegen sollen. Zum Beispiel wollten Forscher wissen, wie wichtig Hühnern ihr Staubbad ist. Sie installierten Türchen mit Gewichten, die die Hühner aufdrücken mussten, um an Erde zu gelangen.[ 11 ] Es kam heraus, dass die Hühner diese Mühe auf sich nahmen und dass ihnen das Staubbad somit sehr wichtig ist.
Nun, das hätte den Forschern jeder sagen können, der Hühner im Freien hält. Wenn Hühner aufgrund schlechten Wetters einmal ein paar Tage keinen Zugang zum Staubbad haben und man ihnen dann einen trockenen Bereich zugänglich macht, stürzen sie sich darauf und ziehen ihn sogar dem Futter vor. – Trotz aller Forschung erhalten Hühner in den meisten Ställen dennoch keine Möglichkeit zum Staubbad. Wenn überhaupt, gibt es Sandhaufen. Sand aber mögen sie nicht, sie bevorzugen feines, erdiges Material, vermutlich, weil es besser zwischen Federn und Haut eindringt. Außerdem ist der Boden der Mastanlagen und Legefarmen nach einiger Zeit natürlich vollständig von getrocknetem Kot bedeckt.
Bei Sauen hat man mit ähnlichen Versuchsanordnungen überprüft, wie wichtig es ihnen ist, vor der Geburt ihrer Ferkelein Nest aus Stroh, Laub oder sonstigen beweglichen Materialien zu bauen. Wieder mussten Türchen aufgedrückt werden. Die Sauen taten das ebenso häufig wie beim Zugang zum Futter. Also ist Sauen der Nestbau «sehr wichtig» – wie doch bereits ihr Verhalten in Ställen beweist, wo sie immer wieder mit ihren Rüsseln den Betonboden absuchen und imaginäres Stroh umeinanderschieben. Man kann das sogar auf Filmaufnahmen aus Ställen sehen, auch ganz ohne Türchen.[ 12 ]
Im Übrigens stellt sich Nagels Fledermausfrage – wie genau kann ich in einen anderen hineingucken? – natürlich bereits beim Menschen (und hat auch da eine entsprechend lange philosophische Tradition). Wenn ich mit meiner rotgrünblinden Freundin Ute spazierengehe, gefallen uns meistens dieselben Blumen und Blüten. Dennoch ist es immer wieder erstaunlich, mit welch unterschiedlichen Farbattributen wir sie belegen. Ich sehe eine knallrote Rose, und Ute deutet auf sie und ruft: «Was für ein herrliches Orange!» Nach Jahren der Freundschaft haben wir keinen Weg zum Decodieren der
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