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Arthur & George

Arthur & George

Titel: Arthur & George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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jeden Fall spielte er die Bedeutung der langen Kampagne von Mr Voules von der Truth herunter, von Mr Yelverton, den Memoranden und der Unterschriftensammlung ganz zu schweigen. Selbst Sir Arthurs Darstellung davon, wie er erstmals von dem Fall gehört hatte, war eindeutig fehlerhaft. »Im Spätherbst 1906 fiel mir durch Zufall ein unbedeutendes Blättchen namens The Umpire in die Hände, und darin fand ich einen Artikel, in dem sein Fall von ihm selbst dargelegt wurde.« Dieses »unbedeutende Blättchen« war Sir Arthur aber nur deshalb »durch Zufall in die Hände gefallen«, weil George ihm alle Artikel mit einem ausführlichen Begleitschreiben zugeschickt hatte. Was Sir Arthur sehr wohl wissen musste.
    Nein, dachte George, das war jetzt unfreundlich. Sir Arthur hatte sicher aus dem Gedächtnis berichtet und die Ereignisse so geschildert, wie er sie im Laufe der Jahre wieder und wieder selbst erzählt hatte. Aus seiner Erfahrung mit Zeugenaussagen wusste George, wie sich durch die ständige Wiederholung einer Geschichte die Ecken und Kanten abschliffen, der Erzähler sich immer mehr hervortat und alles viel eindeutiger erschien, als es anfangs gewesen war. Nun ließ er den Blick rasch über Sir Arthurs Darstellung gleiten, um nicht noch weitere Fehler zu finden. Gegen Ende stand: »Das spricht jeder Gerechtigkeit Hohn«, und dann kam der Satz: »Der Daily Telegraph führte eine Spendensammlung für ihn durch, die etwa £ 300 erbrachte.« George erlaubte sich ein leicht verkniffenes Lächeln: Dies war genau dieselbe Summe, die bei Sir Arthurs Aufruf zugunsten des italienischen Marathonläufers im Jahr darauf zusammengekommen war. Die beiden Ereignisse hatten die Herzen der britischen Bevölkerung im selben, exakt zu beziffernden Maß gerührt: drei Jahre Freiheitsberaubung in einem Zuchthaus und ein Sturz am Ende eines sportlichen Wettkampfs. Nun, es war sicher eine heilsame Lehre, den eigenen Fall so in die richtige Perspektive gerückt zu bekommen.
    Doch zwei Zeilen weiter stand der Satz, den George häufiger gelesen hatte als alle anderen in dem Buch, der alle Ungenauigkeiten und falschen Akzente wettmachte, der Balsam für eine Seele war, der ihr Leiden so demütigend quantifiziert worden war. Da war er: »Er kam zu meinem Hochzeitsempfang, und kein anderer Gast erfüllte mich mit solchem Stolz wie er.« Ja. George beschloss, Memories and Adventures zu der Gedenkfeier mitzunehmen für den Fall, dass jemand etwas gegen seine Anwesenheit einzuwenden hatte. Er wusste nicht, wie Spiritualisten – geschweige denn sechstausend von ihnen – aussahen, aber er glaubte kaum, dass er selbst wie einer aussah. Das Buch wäre sein Passierschein, falls es Schwierigkeiten gäbe. Sehen Sie, hier auf Seite 215 , das bin ich; ich bin gekommen, um von ihm Abschied zu nehmen, ich bin stolz, noch einmal sein Gast zu sein.
    Am Sonntagnachmittag trat er kurz nach vier aus der Tür der Borough High Street Nr. 79 und ging Richtung London Bridge: ein kleiner, brauner Mann in einem blauen Geschäftsanzug mit einem dunkelblauen Buch unter dem linken Arm und einem Fernglas, das von seiner rechten Schulter hing. Ein zufälliger Beobachter hätte meinen können, er sei zu einem Pferderennen unterwegs – nur fanden sonntags keine Rennen statt. Das Buch unter seinem Arm könnte vielleicht der Vogelbestimmung dienen – doch wer würde im Geschäftsanzug Vögel beobachten? In Staffordshire wäre er eine seltsame Erscheinung gewesen, und selbst in Birmingham hätte man ihn wohl als exzentrisch belächelt; doch in London würde das niemand tun, dort gab es ohnehin schon Exzentriker genug.
    Als er hierher zog, hatte er sich anfangs Sorgen gemacht. Über sein zukünftiges Leben, natürlich; darüber, wie er und Maud miteinander auskämen; über die Größe der Stadt, ihre Menschenansammlungen und ihren Lärm; aber auch darüber, wie man ihn hier behandeln würde. Ob ihm Raufbolde auflauern würden wie die in Landywood, die ihn in eine Hecke gestoßen und seinen Regenschirm beschädigt hatten, oder ob wahnsinnige Polizisten wie Upton drohen würden, ihm etwas anzutun; ob er den Rassenvorurteilen begegnen würde, die Sir Arthurs Überzeugung nach seinem Fall zugrunde lagen. Doch als er die London Bridge überquerte, wie er es nun schon seit über zwanzig Jahren tat, fühlte er sich ganz zu Hause. In aller Regel ließ einer den anderen in Ruhe, sei es aus Höflichkeit oder aus Gleichgültigkeit, und George war für beide Motive gleichermaßen

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