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Arthur & George

Arthur & George

Titel: Arthur & George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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würde wie der älteste Mensch auf Erden, hundertfünf, hundertzehn Jahre, das war egal, auch dieses Baby wird einmal tot sein.
    Obwohl George jetzt an die Grenze seines Vorstellungsvermögens kam, ging er noch einen Schritt weiter. Wenn man jemanden kannte, der gestorben war, dann hatte man zwei verschiedene Möglichkeiten: Man konnte eines Toten gedenken, der voll und ganz ausgelöscht war, und der leibliche Tod war der Beleg und Beweis, dass die Persönlichkeit, das Wesen, das individuelle Sein nicht mehr existierte; oder man konnte glauben, dass derjenige irgendwo, irgendwie, je nachdem, welcher Religion man anhing und wie inbrünstig oder halbherzig man ihr anhing, noch am Leben war, entweder so, wie es in heiligen Schriften vorhergesagt wurde, oder auf eine Art, die wir erst noch begreifen mussten. Entweder – oder, da gab es keinen Kompromiss; und George kam die Auslöschung insgeheim wahrscheinlicher vor. Doch wenn man an einem warmen Sommernachmittag im Hyde Park stand, und Tausende von anderen Menschen waren um einen herum, von denen wohl nur wenige ans Totsein dachten, dann konnte man nicht so leicht glauben, dass dieses konzentrierte und komplexe Etwas, das man Leben nannte, nur eine Zufallserscheinung auf einem unbedeutenden Planeten war, ein kurzer lichter Moment zwischen zwei Ewigkeiten von Dunkelheit. In so einem Moment war es möglich zu glauben, dass all diese Lebensenergie irgendwie, irgendwo weitergehen musste. George wusste, er würde keiner Anwandlung religiöser Gefühle erliegen – er würde sich von der Marylebone Spiritualist Association keine der Bücher und Broschüren geben lassen, die man ihm beim Abholen seiner Eintrittskarte angeboten hatte. Er wusste auch, dass er sicherlich weiterleben würde wie bisher und dass er – vor allem Maud zuliebe – wie alle seine Landsleute die allgemeinen Rituale der Kirche von England einhalten würde, auf eine halbherzige, vage hoffnungsvolle Art und Weise einhalten würde, bis es Zeit war zu sterben, und dann würde er die Wahrheit erkennen oder, wahrscheinlicher noch, überhaupt nichts erkennen. Doch gerade heute – während ein Reiter auf seinem Pferd an ihm vorbeitrabte – ein Reiter und ein Pferd, die dem Tod so wenig entgehen konnten wie Prinz Albert – meinte er etwas von dem zu sehen, was Sir Arthur gesehen hatte.
    All das verschreckte ihn so, dass es ihm den Atem nahm; er wollte sich beruhigen und setzte sich deshalb auf eine Bank. Er schaute die vorübergehenden Menschen an, sah aber nur wandelnde Tote – Gefangene, die bedingt in die Freiheit entlassen waren, aber jeden Moment zurückbeordert werden konnten. Um auf andere Gedanken zu kommen, schlug er Memories and Adventures auf und blätterte darin. Und sofort sprangen ihm zwei Wörter in die Augen. Sie waren in normalen Lettern gedruckt, die ihm aber wie Großbuchstaben erschienen: »Albert Hall«. Abergläubischere oder unkritischere Naturen hätten dem wohl irgendeine Bedeutung zugeschrieben; George wollte darin nicht mehr als einen Zufall sehen. Er las dennoch und war abgelenkt. Er las, dass Sir Arthur vor beinahe dreißig Jahren in das Preisgericht eines Körper-Wettbewerbs in der Albert Hall berufen worden war; dass er nach einem Champagner-Diner in die leere Nacht hinauswanderte und sich wenige Schritte hinter dem Sieger wiederfand, einem schlichten Burschen, der durch die Straßen von London streifen wollte, bis er mit dem Frühzug nach Lancashire zurückfahren konnte. George fühlt sich plötzlich in ein bildhaftes Traumland versetzt. Es herrscht Nebel, der Atem der Menschen ist weiß, und ein starker Mann mit einer goldenen Statue hat kein Geld für ein Bett. Er sieht diesen Mann von hinten, so wie Sir Arthur ihn sah; er sieht einen schief aufgesetzten Hut, den Stoff einer Jacke, die sich über kräftigen Schultern spannt, eine lässig unter den Arm geklemmte Statue, deren Füße nach hinten zeigen. Ein im Nebel verirrter Mann, doch hinter ihm naht ein großer, sanfter Retter, der einen schottischen Zungenschlag hat und stets furchtlos zur Tat schreitet. Was wird aus ihnen allen werden – dem unschuldig angeklagten Juristen, dem zusammengebrochenen Marathonläufer, dem umherirrenden starken Mann – nun, da Sir Arthur sie verlassen hat?
    Es war immer noch eine Stunde zu früh, doch die Menschen strömten bereits in die Albert Hall, und George schloss sich ihnen an, um später nicht in ein Gedränge zu geraten. Er hatte eine Karte für eine Loge im zweiten Rang. Man wies

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