Arthur & George
zu tun. Frankreich war in Georges Vorstellung ein Land der Extreme, der radikalen Ansichten, radikalen Grundsätze und eines langen Gedächtnisses. In England ging es ruhiger zu, man war ebenso seinen Grundsätzen verhaftet, machte aber nicht so viel Aufhebens davon; man vertraute dem Gewohnheitsrecht mehr als dem kodifizierten Recht; man kümmerte sich um seine eigenen Angelegenheiten und mischte sich nicht in fremde ein; von Zeit zu Zeit gab es große öffentliche Ausbrüche, Gefühlsausbrüche, die sogar in Gewalt und Ungerechtigkeit umschlagen konnten, in der Erinnerung aber schon bald verblassten und nur selten in die Geschichte des Landes eingingen. Dies und das ist geschehen, nun wollen wir es vergessen und weitermachen wie zuvor: Das war die englische Art. Etwas war falsch, etwas war gestört, aber nun ist es repariert, darum wollen wir so tun, als sei von Anfang an nicht viel falsch gewesen. Es wäre nicht zu dem Fall Edalji gekommen, wenn es ein Berufungsgericht gegeben hätte? Also gut: Wir begnadigen Edalji, richten innerhalb eines Jahres ein Berufungsgericht ein – was soll man weiter darüber reden? Das hier war England, und George konnte Englands Standpunkt verstehen, weil George selbst Engländer war.
Er hatte Sir Arthur nach der Hochzeit noch zweimal geschrieben. Im letzten Kriegsjahr war sein Vater gestorben; er wurde an einem kühlen Maimorgen neben Onkel Compson begraben, etwa zehn Meter von der Kirche entfernt, in der er über vierzig Jahre den Gottesdienst abgehalten hatte. George meinte, Sir Arthur – der seinen Vater kennengelernt hatte – werde das wissen wollen; als Antwort hatte er ein kurzes Kondolenzschreiben erhalten. Doch wenige Monate darauf las er in der Zeitung, dass Sir Arthurs Sohn Kingsley an der Somme verwundet und, davon geschwächt, wie so viele andere von der Spanischen Grippe hinweggerafft worden war. Nur zwei Wochen vor Unterzeichnung des Waffenstillstands. Er schrieb ihm wieder – ein Sohn, der einen Vater verloren hatte, an einen Vater, der einen Sohn verloren hatte. Diesmal erhielt er einen längeren Brief. Kingsley war der letzte Name auf einer langen Liste schmerzlicher Verluste. Sir Arthurs Frau hatte in der ersten Kriegswoche ihren Bruder Malcolm verloren. Sein Neffe Oscar Hornung war wie auch ein anderer Neffe bei Ypern gefallen. Der Mann seiner Schwester Lottie war am ersten Tag im Schützengraben gestorben. Und so weiter und so fort. Sir Arthur zählte alle auf, die er und seine Frau gekannt hatten. Doch am Ende gab er seiner Gewissheit Ausdruck, dass sie nicht verschwunden seien, sondern nur auf der anderen Seite warteten.
George betrachtete sich nicht mehr als einen religiösen Menschen. Wenn er überhaupt noch Christ war, dann lag das nicht an einem Überrest kindlicher Frömmigkeit, sondern an brüderlicher Liebe. Er ging zur Kirche, weil es Maud freute. Ob es ein Leben nach dem Tode gab, würde er gelassen abwarten. Jeglicher Fanatismus war ihm verdächtig. Es hatte ihn etwas verschreckt, dass Sir Arthur damals im Grand Hotel so eindringlich über seine religiösen Gefühle sprach, die kaum etwas mit der eigentlichen Sache zu tun hatten. Doch so war George wenigstens vorbereitet gewesen, als er später erfuhr, dass sein Wohltäter ein regelrechter Spiritualist geworden war und die ihm verbleibenden Jahre und Energien ganz der Bewegung widmen wollte. Diese Ankündigung hatte viele rechtschaffene Menschen zutiefst schockiert. Hätte Sir Arthur, das Idealbild eines englischen Gentlemans, sich mit ein bisschen gepflegtem Tischrücken unter Freunden am Sonntagnachmittag begnügt, dann hätte man sich vielleicht nicht weiter daran gestört. Doch das war nun einmal nicht seine Art. Wenn er an etwas glaubte, dann sollten alle anderen auch daran glauben. Das war seit jeher seine Stärke und manchmal auch seine Schwäche gewesen. Also gab es Spott von allen Seiten, und in den Zeitungen stellten unverschämte Schlagzeilen die Frage IST SHERLOCK HOLMES ÜBERGESCHNAPPT? Wo immer Sir Arthur einen Vortrag hielt, gab es einen Gegenvortrag von Opponenten jeglicher Couleur – von Jesuiten, Plymouthbrüdern, aufgebrachten Materialisten. Erst kürzlich war Bischof Barnes von Birmingham gegen die derzeit grassierenden »phantastischen Glaubensrichtungen« zu Felde gezogen. Christian Science und Spiritualismus seien Irrlehren, die »einfältige Gemüter dazu bewegen, todgeweihte Ideen wieder aufleben zu lassen«, hatte George gelesen. Doch weder Spott noch klerikale
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