Arthur & George
abends in den dunklen Garten hinausschaute, sah er oft flüchtige Schemen unter den Bäumen umherhuschen; er wusste, da war nichts, und fürchtete es dennoch. Maud reagierte anders. Trotz ihrer zärtlichen Liebe zu Vater und Mutter wurde sie mit dem Eintritt ins Pfarrhaus still und zaghaft; sie hatte kaum eine eigene Meinung, und nie war ihr Lachen zu hören. George hätte beinahe schwören können, dass sie zu kränkeln begann. Doch er wusste immer, was man dagegen tun konnte: Das Heilmittel hieß New Street Station und der Zug nach London.
Wenn er mit Maud zusammen ausging, wurden sie zunächst manchmal für Mann und Frau gehalten, und dann sagte George, der sich die Ehetauglichkeit auf keinen Fall absprechen lassen wollte, recht pedantisch: »Nein, das ist meine liebe Schwester Maud.« Doch nach einiger Zeit unterließ er diese Korrektur bisweilen, und hinterher nahm Maud dann seinen Arm und lachte leise. Bald, wenn ihre Haare ebenso grau waren wie seine, hielte man sie vermutlich für ein altes Ehepaar, und vielleicht hätte er dann gar kein Interesse mehr daran, diese Annahme richtigzustellen.
Er war ziellos umhergeschlendert und näherte sich nun dem Albert Memorial. Dort saß der Prinz unter seinem goldglänzenden Baldachin, zu seinen Füßen alle berühmten Männer dieser Welt. George nahm das Fernglas aus dem Etui und begann zu üben. Er ließ den Blick langsam das Denkmal hinaufgleiten, über die von Kunst und Wissenschaft und Industrie beherrschten Ebenen, über die sitzende Gestalt des gedankenverlorenen Prinzgemahls hinweg in eine höhere Sphäre. Der geriffelte Knopf war nur schwer zu bedienen, und manchmal sah er nur eine Masse verschwommener Blätter vor der Linse, aber schließlich bekam er ein klares Bild von einem klobigen christlichen Kreuz. Von dort aus fuhr er langsam an der Spitze des Denkmals herunter, die ebenso dicht bevölkert schien wie die unteren Bereiche. Da waren Reihen voller Engel und dann – etwas unterhalb der Engel – eine Ansammlung weiterer menschlicher Gestalten in klassischen Gewändern. Er umkreiste das Denkmal, wobei er oft nur unscharf sah, und überlegte, wer das wohl sein könnte: eine Frau mit einem Buch in der einen und einer Schlange in der anderen Hand, ein Mann im Bärenfell mit einer großen Keule, eine Frau mit einem Anker, eine Gestalt mit einer Kapuze auf dem Kopf und einer langen Kerze in der Hand … Ob das vielleicht Heilige waren oder symbolische Gestalten? Ah, hier auf einem Sockel in der Ecke stand endlich eine Figur, die er erkannte: Sie hielt in der einen Hand ein Schwert und in der anderen eine Waage. George stellte erfreut fest, dass der Bildhauer ihr keine Augenbinde gegeben hatte. Dieses Detail hatte oft sein Missfallen erregt: nicht, weil er seine Bedeutung nicht verstand, sondern weil andere sie nicht verstanden. Die Augenbinde erlaubte ungebildeten Menschen, spöttische Bemerkungen über seinen Berufsstand zu machen. Das konnte George nicht zulassen.
Er steckte das Fernglas ins Etui zurück und lenkte seine Aufmerksamkeit von den monochromen, erstarrten Figuren auf die bunten, beweglichen um ihn herum, von dem in Stein gehauenen auf den lebendigen Fries. Und in dem Moment überfiel ihn die Erkenntnis, dass jeder Mensch irgendwann tot ist. Er sann hin und wieder über seinen eigenen Tod nach; er hatte um seine Eltern getrauert – vor zwölf Jahren um seinen Vater, vor sechs Jahren um seine Mutter; er hatte Nachrufe in den Zeitungen gelesen und war zur Beerdigung von Kollegen gegangen; und jetzt ging er zu dem großen Abschied von Sir Arthur. Doch ihm war nie zuvor bewusst gewesen – obwohl das eher ein intuitives Wissen war als eine verstandesmäßige Einsicht –, dass jeder Mensch irgendwann tot ist. Gewiss hatte man ihn als Kind darüber aufgeklärt, wenn auch nur im Zusammenhang damit, dass jeder Mensch – wie Onkel Compson – hinterher weiterlebt, sei es im Schoße Christi oder, wenn es ein böser Mensch war, anderswo. Nun aber schaute George sich um. Prinz Albert war natürlich schon tot, und die Witwe von Windsor auch, die um ihn getrauert hatte; aber diese Frau mit dem Sonnenschirm wird einmal tot sein, und die Mutter neben ihr schon früher tot, und diese kleinen Kinder später tot, obwohl die Jungen, wenn es wieder einen Krieg gibt, auch früher tot sein könnten, und ihre beiden Hunde werden auch tot sein, und die Männer der fernen Musikkapelle und das Baby im Kinderwagen, sogar das Baby im Kinderwagen, selbst wenn es so alt
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