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Arthur & George

Arthur & George

Titel: Arthur & George Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes
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Lebensraum. Er hatte oft genug Verhandlungen beigewohnt und gesehen, wie die Angst ganz gewöhnlichen Menschen die Kehle zuschnürte, sodass sie angesichts der hehren Pracht des Gerichts kaum in der Lage waren, eine Aussage zu machen. Er hatte Polizisten erlebt, die erst selbstsicher und im Vollgefühl ihrer Beamtenwürde auftraten und dann von einem drittklassigen Verteidiger als verlogene Narren hingestellt wurden. Und er hatte gemerkt – nein, nicht nur gemerkt, auch gespürt, beinahe mit Händen greifen können –, dass alle, die von Berufs wegen mit der Rechtsprechung zu tun hatten, durch ein unsichtbares, unauflösbares Netz verbunden waren. Richter, Laienrichter, Barrister, Solicitors, Protokollführer, Saaldiener: Dies war ihr Reich, in dem sie sich in einer lingua franca unterhielten, die andere oft kaum verstanden.
    Natürlich würde sein Fall gar nicht erst vor Richter und Barrister kommen. Die Polizei hatte keine Beweise gegen ihn in der Hand, und er hatte das wasserdichteste Alibi, das man überhaupt haben konnte. Ein Geistlicher der Kirche von England würde auf die heilige Bibel schwören, dass sein Sohn zu der Zeit, als das Verbrechen begangen wurde, in einem verschlossenen Raum in tiefem Schlaf lag. Die Laienrichter der ersten Instanz würden nur einen kurzen Blick wechseln und sich gar nicht erst zur Beratung zurückziehen. Inspector Campbell würde einen scharfen Verweis einstecken müssen, und damit wäre die Sache erledigt. Natürlich musste er den richtigen Solicitor verpflichten und meinte, ihn in Mr Litchfield Meek gefunden zu haben. Verfahren eingestellt, Kosten der Gerichtskasse auferlegt, er selbst mit makellosem Leumund entlassen, Polizei heftig gerügt.
    Nein, jetzt wurde er leichtsinnig. Außerdem griff er viel zu weit vor, wie ein ganz gewöhnlicher, unbedarfter Mensch. Er durfte nie aufhören, wie ein Jurist zu denken. Er musste voraussehen, was die Polizei vorbringen könnte, was sein Verteidiger wissen musste, was das Gericht als Beweis zulassen würde. Er musste sich mit absoluter Gewissheit erinnern, wo er während des gesamten Zeitraums der angeblichen kriminellen Betätigung war, was er getan und gesagt hatte und wer was zu ihm gesagt hatte.
    Er ging die letzten beiden Tage systematisch durch und bereitete sich darauf vor, den Ablauf bis ins kleinste und unstrittigste Detail über jeden vernünftigen Zweifel hinaus belegen zu können. Er stellte eine Liste der Zeugen auf, die er möglicherweise brauchen würde: seine Sekretärin, den Stiefelmacher Mr Hands, den Stationsvorsteher Mr Merriman. Jeden, der ihn bei irgendetwas gesehen hatte. Markew, zum Beispiel. Falls Merriman nicht bestätigen konnte, dass er den 7 : 39 – Zug nach Birmingham genommen hatte, dann wusste er, an wen er sich zu wenden hatte. George hatte auf dem Bahnsteig gestanden, als Joseph Markew ihn ansprach und ihm nahelegte, einen späteren Zug zu nehmen, da Inspector Campbell ihn zu sprechen wünsche. Markew war früher Police Constable gewesen und nunmehr Gastwirt; es war durchaus möglich, dass er als Hilfspolizist angeheuert worden war, doch er hatte sich nicht als solcher zu erkennen gegeben. George hatte gefragt, was Campbell von ihm wolle, aber Markew hatte gesagt, das wisse er nicht. Als George noch überlegte, was er tun sollte und was seine Mitreisenden wohl von diesem Wortwechsel halten mochten, hatte Markew einen herrischen Ton angeschlagen und in etwa gesagt – nein, nicht in etwa, denn nun fielen George seine genauen Worte wieder ein. Markew hatte gesagt: »Na los, Mr Edalji, können Sie nicht mal einen Tag Urlaub machen?« Und George hatte gedacht, mein guter Mann, ich habe doch erst vor genau zwei Wochen Urlaub gemacht, ich war mit meiner Schwester in Aberystwyth, doch wenn es um meinen Urlaub gehen soll, dann höre ich lieber auf mich selbst oder meinen Vater als auf die Staffordshire Constabulary, die sich in den letzten Wochen nicht gerade von ihrer höflichsten Seite gezeigt hat. Darum hatte er erklärt, dass in der Newhall Street dringende Angelegenheiten auf ihn warteten, und Markew, als der 7 : 39 einfuhr, auf dem Bahnsteig stehen lassen.
    Ebenso gewissenhaft ging George auch andere, selbst die banalsten Gespräche durch. Endlich schlief er doch ein oder nahm zumindest das Scharren am Guckloch und die Störung durch den Constable weniger wahr. Am Morgen brachte man ihm einen Eimer Wasser, einen Klumpen schmieriger Seife und einen Lappen, der ihm als Handtuch dienen sollte. Er durfte

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