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Artikel 5

Artikel 5

Titel: Artikel 5 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristen Simmons
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Hände zog mich an ihn, die andere glitt unter mein Haar, legte sich fest unter das Band um meinen gelockerten Pferdeschwanz. Meine Finger sehnten sich nach seiner Haut, fanden sein Gesicht, folgten den starken Linien seines Halses.
    Plötzlich wich er zurück. Er atmete stockend, und seine Augen bohrten sich in meine. Seine Arme aber hielten mich immer noch umfasst, und ich war froh darüber, weil meine Beine sich so schwach anfühlten.
    »Wahrheit?«, flüsterte ich.
    Er lächelte, und mein Herz flog davon. »Wahrheit.«
    »Alles aufwachen!«
    Ich wurde ruckartig wach, als die Stimme des Mannes durch den langgezogenen Innenraum des Busses hallte.
    Der grelle Lichtschein des Morgens fiel durch die Fenster herein, und ich schirmte mein Gesicht – das noch von dem vorangegangenen Heulkrampf verquollen war – vor seinem fröhlichen Spötteln ab. Ich wusste nicht recht, ob ich geschlafen oder nur immer wieder das Bewusstsein verloren hatte. Seit wir Louisville verlassen hatten, hatte ich jedenfalls mindestens hundertmal aufs Neue zugesehen, wie Chase meine Mutter mitgenommen hatte.
    Rosa und ich hatten uns noch ein wenig unterhalten – sie stand wegen Artikel 3 unter Anklage, weil ihre Cousine sie in ihrer Steuererklärung als Unterhaltsberechtigte aufgeführt hatte, was nicht so ganz in die Ein-Mann-plus-eine-Frau-ergibt-ein-Kind-Gleichung passte – aber seit West Virginia hatten wir geschwiegen. Wie cool sie auch sein mochte, auch Rosa war geschockt. Wir waren weit weg von zu Hause.
    Zischend wurde der Bus langsamer und hielt vor einem großen Ziegelgemäuer. Verankert in dem von sterbendem Gras bedeckten Boden neben der Auffahrt war ein grünes Metallschild mit leuchtend weißen Lettern zu sehen:
    BESSERUNGS- UND RESOZIALISIERUNGSANSTALT FÜR MÄDCHEN.
    Nervös sah ich mich um, hoffte, dass es noch ein weiteres Gebäude gab, in dem meine Mutter untergebracht sein könnte. Dass man sie vielleicht auch zur Resozialisierung gebracht hatte. Dann wäre sie wenigstens in meiner Nähe, und wir könnten den Schlamassel gemeinsam durchstehen. Aber meine düstere Intuition lag ganz richtig. Da war kein zweiter Bus, der unserem gefolgt wäre.
    Eine nach der anderen erhoben wir uns von unseren Sitzplätzen. Mein Rücken und mein Hals schmerzten nach vielen Stunden in der gleichen Haltung. Als wir ausstiegen, flankierten uns Soldaten mit Schlagstöcken in den Händen. Ich kam mir vor wie bei einem Spießrutenlauf. Rosa warf dem Mann mit dem blauen Auge eine Kusshand zu, worauf dieser rot anlief.
    Außerhalb des Busses bekam ich einen besseren Überblick. Wir standen vor einem alten Gebäude von der Sorte, wie man sie häufig in Geschichtsbüchern zu sehen bekam, auch wenn sie dort von Männern mit Rüschenhemden und Lockenperücken umgeben waren. Es war aus roten Ziegeln erbaut, von denen einige inzwischen zu einem Grauton verblasst waren, der den Eindruck erweckte, die flache Wand wäre voller Löcher. Die hohe Eingangstür war frisch weiß gestrichen und wurde von mächtigen Säulen eingerahmt, die ein dreieckiges Vordach stützten. Meine Augen wanderten sechs Stockwerke nach oben, bis ich gegen die junge Morgensonne anblinzeln musste. Eine Kupferglocke hing untätig in einem Turm auf dem Dach.
    Auf der anderen Straßenseite hinter mir war ein kleebewachsener Hügel, von dem aus eine lange Flucht Stufen hinunter zu einem offenen Pavillon und einem moderneren, verglasten Gebäude führte. Eine andere Treppe verschwand weiter unten am Hügel. Alles in allem sah es aus wie der Campus eines der Colleges, die während des Krieges geschlossen worden waren.
    Als ich mich wieder dem Hauptgebäude zuwandte, hatte sich am Kopf der Treppe eine Frau materialisiert. Neben den Soldaten wirkte sie winzig, aber zugleich noch strenger. Die Schultern unter dem weißen Haar waren weit zurückgebogen. Ihr ganzes Gesicht schien in sich selbst zu versinken, wodurch ihre Augen übertrieben groß wirkten und ihr Mund, solange die Lippen geschlossen waren, zahnlos.
    Sie trug eine weiße, bis oben hin zugeknöpfte Bluse und einen blauen Faltenrock, schmal genug, dass sich ihre Beckenknochen durch den Stoff abzeichneten. Ein babyblaues Tuch war mit einem Seemannsknoten an ihrem Hals befestigt. Die MM schienen darauf zu warten, dass sie sich ein Bild der Lage machte und Anweisungen erteilte, was mir sonderbar vorkam. In der Kommandostruktur des FBR war ich nie über weibliche Vorgesetzte gestolpert. Als die Frau die Reihe der Mädchen mit stechendem

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