Artikel 5
vergessen Sie nicht, was ich gesagt habe.« Ms Brock deutete mit einer welken Hand in die Richtung, in der Rosa und einige andere Mädchen meines Alters standen. Dabei funkelten ihre Augen so skeptisch, als wäre mein Geburtstag für die Frage, wann und wie ich diese Einrichtung verließ, kaum von Bedeutung.
Unterwegs wurde ich vor einer Wand von einer stämmigen Frau mit schwermütigem Gesicht aufgehalten, die mich vor einem blauen Hintergrund fotografierte. Ich lächelte nicht. Die harte Realität meiner Lage wurde mir allmählich bewusst und erfüllte mich mit Grauen.
Schwestern. Kohorten. Ms Brocks überlegenes Grinsen. Das würde kein kurzes Vergnügen werden.
Helle Flecken vom Blitzlicht der Kamera verschleierten immer noch mein Blickfeld, als ich mich zu den anderen gesellte.
»Schätze, die Spinner werden versuchen, uns hier festzuhalten, bis wir achtzehn sind«, flüsterte ich Rosa zu.
»Ich bleibe nicht bis achtzehn hier«, sagte sie sehr überzeugend. Als ich zu ihr herumwirbelte, zeigte sie mir grinsend die Lücke zwischen ihren Zähnen. »Entspann dich. In solchen Gruppenunterkünften wie der hier sagen die das immer, aber wenn du genug Mist baust, werfen sie dich vorher raus.«
»Wie geht das?«, fragte ich.
Sie klappte den Mund zu einer Antwort auf, doch da wurden wir von zwei Soldaten unterbrochen, die zum Haupteingang hereinkamen und ein Mädchen in einem Krankenhauskittel eskortierten. Sie führten sie an dem Empfangstisch vorbei und durch einen Korridor auf der rechten Seite. Dabei hielten sie sie an den Ellbogen, als könnte sie ohne ihre Unterstützung zusammenbrechen. Die wenigen Sekunden, in denen ich sie sehen konnte, reichten, um mir eine Gänsehaut über den Leib zu jagen. Ihr Blick fixierte den Boden, das wirre schwarze Haar bildete einen scharfen Kontrast zu ihrem blassen Gesicht und den müden Augen. Sie sah aus wie eine Geisteskranke unter einer Überdosis an Medikamenten, nur schlimmer. Sie sah leer aus.
»Was meinst du, was mit ihr passiert ist?«, erkundigte ich mich verstört bei Rosa.
»Vielleicht ist sie krank«, spekulierte sie wenig überzeugend. Offensichtlich sann sie über ihre Theorie mit der vorzeitigen Entlassung nach. Dann zuckte sie mit den Schultern, und ich wünschte, ich könnte das Erlebnis ebenso einfach abschütteln, aber ich konnte den Eindruck nicht loswerden, den das Mädchen auf mich gemacht hatte. Sie hatte physisch krank ausgesehen, aber irgendetwas sagte mir, dass ihre Symptome nicht von einem Virus herrührten. Was hatte sie getan? Was hatten die ihr angetan?
Ich wollte nachhaken, aber da wurden wir schon in einen Gemeinschaftsraum geführt, möbliert mit grünen Sofas mit niedrigen Lehnen, die nach Mottenkugeln rochen. Acht von uns gehörten in meine Altersklasse. Acht neue Siebzehnjährige. Auf der anderen Seite drängten sich noch etliche andere Mädchen zusammen, wahrscheinlich Sechzehnjährige oder Fünfzehnjährige. Wenigstens zwei von ihnen kannte ich von der Western. Ich war ziemlich sicher, dass eine von ihnen Jacquie hieß, aber sie wich meinem Blick aus, als ich in ihre Richtung schaute.
Auch einige Heimbewohnerinnen hatten sich inzwischen eingefunden, und sie alle trugen ein gespenstisches, roboterhaftes Lächeln auf den Lippen. Gekleidet waren sie wie Klone. Unauffällige flache Schuhe zu langen blauen Röcken und passenden, langärmeligen T-Shirts, ein total langweiliges Outfit, sogar für eine Modenull wie mich.
»Achtung, Achtung, meine Damen!«, rief Ms Brock. Stille senkte sich über den Raum. »Willkommen. Ich bin Ms Brock, die Direktorin der Besserungs- und Resozialisierungsanstalt für Mädchen in West Virginia.«
Unbehaglich verlagerte ich mein Gewicht. Ms Brock drehte sich um, und es kam mir vor, als würde sie mich direkt anstarren.
»Paragraph 2, Artikel 7 gebietet, dass Sie zu Damen heranwachsen, daher werden Sie bis zu Ihrem achtzehnten Geburtstag erzogen, bis Sie nichts weniger sind als wahre Musterbeispiele der Moral und der Keuschheit.«
Bei dem Wort Keuschheit schnaubte Rosa verächtlich, worauf Ms Brock sie mit einem überaus giftigen Blick bedachte.
»Die Welt hat sich verändert, meine Lieben«, fuhr sie zähneknirschend fort, »und Sie haben das Glück, an dieser Veränderung teilhaben zu dürfen. Von heute an ist es meine größte Hoffnung, dass Sie aufgeschlossen und genügsam voranschreiten. Dass Sie den Ruf der Heilsschwestern ehren und mit einer wahren Mission in die finstere Welt zurückkehren: der
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