Arztgeschichten
nicht. Hinter mir blickte noch ein Augenpaar. Ein weiterer Arzt war hinzugekommen.
Auf einmal zog sich Poljakows Mund schief wie bei einem Schläfer, der eine aufdringliche Fliege verjagen will, dann zuckte sein Unterkiefer, als habe er ein würgendes Klümpchen in der Kehle und wolle es verschlucken. Ach, wer die scheußlichen Wunden von Revolver- und Gewehrkugeln gesehen hat, kennt diese Bewegung genau! Marja Wlassjewna verkrampfte gequält das Gesicht und seufzte.
»Doktor Bomhart«, sagte Poljakow kaum hörbar.
»Ich bin hier«, flüsterte ich dicht bei seinem Mund.
»Nehmen Sie mein Heft«, brachte Poljakow heiser und noch schwächer hervor.
Dann schlug er die Augen auf und hob sie zu der tristen, verschatteten Zimmerdecke. Seine dunklen Pupillen schienen sich von innen her mit Licht zu füllen, das Weiße in den Augen wurde gleichsam durchsichtig, bläulich. Die Augen blieben nach oben gerichtet, trübten sich und verloren ihre kurzlebige Farbe.
Doktor Poljakow war tot.
Nacht. Bald graut der Morgen. Die Lampe brennt sehr hell, denn das Städtchen schläft, und es gibt reichlich Strom. Alles ist still, Poljakows Leiche liegt in der Kapelle. Nacht.
Auf dem Tisch vor meinen vom Lesen entzündeten Augen liegen ein offener Umschlag und ein Brief. Er lautet:
»Lieber Kollege!
Ich werde nicht auf Ihre Ankunft warten. Ich habe es mir mit der Behandlung anders überlegt. Es ist hoffnungslos. Und quälen will ich mich auch nicht mehr. Ich habe es zur Genüge versucht. Ich warne andere: Seid vorsichtig mit den in 25 Teilen Wasser aufgelösten weißen Kristallen. Ich habe ihnen zu sehr vertraut, und sie haben mich zugrunde gerichtet. Mein Tagebuch schenke ich Ihnen. Ich habe Sie stets für wissensdurstig und für einen Liebhaber menschlicher Dokumente gehalten. Wenn es Sie interessiert, lesen Sie meine Krankengeschichte. Leben Sie wohl.
Ihr S. Poljakow«
Ein Nachsatz mit Großbuchstaben:
»Ich bitte, niemandem die Schuld an meinem Tode zu geben.
Sergej Poljakow, Arzt
13. Februar 1918«
Neben dem Brief des Selbstmörders liegt ein gewöhnliches Heft, in schwarzes Wachstuch gebunden. Die erste Hälfte der Seiten ist herausgerissen. Der Rest enthält kurze Eintragungen, anfangs mit Bleistift oder Tinte, in kleiner sauberer Handschrift, gegen Ende des Hefts aber mit Kopierstift und dickem Rotstift, in schludriger, hüpfender Schrift und mit vielen abgekürzten Wörtern.
4 … 7 1 , 20. Januar
… mich sehr freut. Gott sei Dank: je einsamer, desto besser. Ich will keinen Menschen sehen, und hier werde ich keinen sehen außer kranken Bauern. Aber die werden meine Wunde kaum anrühren. Die anderen wurden übrigens wie ich in Revieren des Semstwos untergebracht. Mein ganzer Jahrgang, der nicht zum Kriegsdienst eingezogen wurde (die Landwehrmänner zweiter Ordnung des Jahrgangs 1916), ist auf die Semstwos verteilt worden. Aber das interessiert niemanden. Was meine Freunde betrifft, so weiß ich es nur von Iwanow und Bomhart. Iwanow hat das Gouvernement Archangelsk gewählt (Geschmackssache), Bomhart aber sitzt, wie mir die Feldscherin sagte, in einem Kaff namens Gorelowo, ähnlich dem meinen, drei Kreise von hier. Ich wollte ihm schreiben, ließ es aber. Ich möchte von Menschen nichts sehen noch hören.
21. Januar
Schneesturm. Nichts.
25. Januar
Ein wunderschöner Sonnenuntergang. Migränin ist eine Verbindung von antipyrin, coffein und ac. citric.
Die Pulver enthalten je 1,0 … Kann man 1,0 nehmen? Man kann.
3. Februar
Heute bekam ich die Zeitungen der vergangenen Woche. Ich habe sie nicht gelesen, doch ich konnte es mir
nicht verkneifen, den Theaterplan zu überfliegen. »Aida« lief in der vergangenen Woche. Also ist sie vorgetreten und hat gesungen: »Komm, o Geliebter, nahe dich …«
Merkwürdig, daß eine solche Krämerseele eine so ungewöhnlich klare, mächtige Stimme hat …
(Hier sind zwei oder drei Seiten herausgerissen.)
… ist natürlich würdelos, Doktor Poljakow. Dumm und pennälerhaft, mit Gossenflüchen eine Frau zu beschimpfen, weil sie einen verlassen hat! Sie will nicht mit mir leben und ist weggegangen. Das ist alles.
Ist doch eigentlich ganz einfach. Eine Opernsängerin hat mit einem jungen Arzt geschlafen, ein Jahr mit ihm gelebt und ihn verlassen.
Soll ich sie umbringen? Soll ich? Ach, wie dumm und sinnlos ist das alles.
Hoffnungslos !
Ich will nicht denken. Ich will nicht …
1 1 . Februar
Schneesturm, nichts als Schneesturm … Es weht mich zu!
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