von Schirach, Ferdinand
Ferdinand
von Schirach
Verbrechen
Stories
Die Wirklichkeit, von der wir
sprechen können, ist die die Wirklichkeit an sich.
(Werner
K. Heisenberg)
Fähner
Friedhelm Fähner war sein
Leben lang praktischer Arzt in Rottweil gewesen, 2800 Krankenscheine pro Jahr,
Praxis an der Hauptstraße, Vorsitzender des Kulturkreises Ägypten, Mitglied im Lionsclub,
keine Straftaten, nicht einmal Ordnungswidrigkeiten. Neben seinem Haus besaß
er zwei Mietshäuser, einen drei Jahre alten Mercedes E-Klasse mit Lederausstattung
und Klimaautomatik, etwa 750.000 Euro in Aktien und Obligationen und eine
Kapitallebensversicherung. Fähner hatte keine Kinder. Seine einzige noch
lebende Verwandte war seine sechs Jahre jüngere Schwester, die mit ihrem Mann
und zwei Kindern in Stuttgart lebte. Über Fähners Leben hätte es eigentlich
nichts zu erzählen gegeben.
Bis auf die Sache mit Ingrid.
Mit 24 Jahren hatte Fähner Ingrid auf
dem sechzigsten Geburtstag seines Vaters kennengelernt. Auch sein Vater war
Arzt in Rottweil gewesen.
Rottweil ist eine durch und
durch bürgerliche Stadt. Jedem Fremden wird ungefragt erklärt, die Stadt sei
von den Staufern gegründet und die älteste in Baden-Württemberg. Tatsächlich
trifft man hier auf mittelalterliche Erker und hübsche Stechschilder aus dem 16. Jahrhundert. Die Fähners waren
schon immer hier. Sie gehörten zu den sogenannten ersten Familien der Stadt,
waren anerkannte Ärzte, Richter und Apotheker.
Friedhelm Fähner ähnelte dem
jungen John F. Kennedy. Er hatte ein freundliches Gesicht, man hielt ihn für
einen sorglosen Menschen, die Dinge glückten ihm. Nur wenn man genauer
hinsah, fiel etwas Trauriges, etwas Altes und Dunkles in seinen Zügen auf, wie
man es nicht selten in dieser Gegend zwischen Schwarzwald und schwäbischer Alb
sieht.
Ingrids Eltern, Apotheker in
Rottweil, brachten ihre Tochter zu der Feier mit. Sie war drei Jahre älter als Fähner,
eine handfeste Provinzschönheit mit schweren Brüsten. Wasserblaue Augen,
schwarze Haare, blasse Haut - sie war sich ihrer Wirkung bewusst. Die seltsam
hohe, metallische Stimme, die keinerlei Modulation zuließ, irritierte Fähner.
Nur wenn sie leise sprach, hatten ihre Sätze eine Melodie.
Sie hatte die Realschule nicht
abgeschlossen und arbeitete als Kellnerin. »Vorübergehend«, sagte sie zu Fähner.
Ihm war das gleichgültig. Sie war ihm auf einem anderen Gebiet, das ihn mehr
interessierte, weit voraus. Fähner hatte bis dahin nur zwei kurze sexuelle
Kontakte mit Frauen gehabt; sie hatten ihn eher verunsichert. Er verliebte
sich sofort in Ingrid.
Zwei Tage nach der Feier
verführte sie ihn nach einem Picknick. Sie lagen in einer Wetterhütte, und
Ingrid machte ihre Sache gut. Fähner war so durcheinander, dass er sie schon
eine Woche später bat, ihn zu heiraten. Ohne zu zögern, nahm sie an: Fähner war
eine sogenannte gute Partie, er studierte Medizin in München, er war attraktiv
und liebevoll, und er stand kurz vor dem ersten Examen. Vor allem aber zog
seine Ernsthaftigkeit sie an. Sie konnte das nicht formulieren, aber sie sagte
ihrer Freundin, Fähner werde sie nie sitzen lassen. Vier Monate später wohnte
sie bei ihm.
Die Hochzeitsreise ging nach
Kairo, es war sein Wunsch. Wenn man ihn später nach Ägypten fragte, sagte er, es
sei »schwerelos«, auch wenn er wusste, dass ihn niemand verstand. Er war dort
der junge Parsifal, der reine Tor, und er war glücklich. Es war das letzte
Mal in seinem Leben.
Am Abend vor der Rückreise
lagen sie im Hotelzimmer. Die Fenster waren geöffnet, es war immer noch zu
heiß, die Luft staute sich in dem kleinen Zimmer. Es war ein billiges Hotel,
es roch nach faulem Obst, und von unten hörten sie den Straßenlärm.
Trotz der Hitze hatten sie
miteinander geschlafen. Fähner lag auf dem Rücken und verfolgte die Drehungen
des Deckenventilators, Ingrid rauchte eine Zigarette. Sie drehte sich zur
Seite, stützte ihren Kopf auf eine Hand und sah ihn an. Er lächelte. Sie
schwiegen lange.
Dann begann sie zu erzählen.
Sie erzählte von den Männern vor Fähner, von Enttäuschungen und Fehlern, aber
vor allem von dem französischen Oberleutnant, der sie geschwängert hatte, und
von der Abtreibung, die sie fast getötet hätte. Sie weinte. Er erschrak und
nahm sie in die Arme. Auf seiner Brust spürte er ihren Herzschlag, er war
hilflos. Sie ist mir anvertraut, dachte er.
»Du musst mir schwören, dass
du auf mich aufpasst. Du
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