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Arztgeschichten

Arztgeschichten

Titel: Arztgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Bulgakow
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der Februar achtzehn eilte heran. Ich hatte mich an meine neue Stellung gewöhnt und vergaß allmählich mein entlegenes Revier. In der Erinnerung verblaßten die grüne Lampe mit dem zischenden Petroleum, die Einsamkeit, die Schneeverwehungen. Undankbar ist das! Ich vergaß meinen Kampfposten, wo ich allein, ohne jegliche Unterstützung, die Krankheiten mit meinen eigenen Kräften bekämpft hatte wie ein Held von James Cooper, der sich auch aus den verzwicktesten Situationen befreit.
    Manchmal freilich, wenn ich zu Bett ging mit dem angenehmen Gedanken, wie ich sogleich einschlafen würde, huschten irgendwelche Fetzen durch das schon dunkle Bewußtsein. Das grüne Licht, die flackernde Laterne … Ein Schlitten knirscht … Ein kurzes Stöhnen, dann Finsternis, dumpf heult der Schneesturm in den Feldern … Dann purzelte all das zur Seite und verschwand.
    Wer mag jetzt auf meinem Platz sitzen? Einer muß doch da sein … Ein junger Arzt wie ich … Na und, ich hab meine Zeit abgesessen. Februar, März, April … na, sagen wir, Mai, dann ist meine Assistentenzeit herum. Ende Mai also trenne ich mich von meinem prächtigen Städtchen und kehre nach Moskau zurück. Wenn die Revolution mich auf ihre Flügel hebt, muß ich vielleicht wieder auf Reisen … Aber mein Revier sehe ich jedenfalls nie wieder  … Niemals … Die Hauptstadt … Die Klinik … Asphalt, Lichter …
    So dachte ich.
    Ist aber doch gut, daß ich in dem Revier war … Ich bin mutig geworden … Habe keine Angst mehr … Was habe ich
nicht alles behandelt! In der Tat! Vielleicht keine psychischen Erkrankungen … Stimmt … Aber, Moment mal … Der Agronom damals hat sich doch bis in die Hölle gesoffen … Ich habe ihn behandelt, ziemlich erfolglos … Delirium tremens! Ist das etwa keine psychische Erkrankung? Ich müßte über Psychiatrie nachlesen … Ach, hol sie … Irgendwann später in Moskau … Jetzt habe ich mich in erster Linie um Kinderkrankheiten zu kümmern … und nochmals um Kinderkrankheiten … Besonders diese Kinderrezeptur, die reinste Zwangsarbeit … Puh, verdammt! Wenn ein Kind zehn Jahre alt ist, wieviel Pyramidon kann ich es einnehmen lassen? 0,1 oder 0,15? Vergessen. Und wenn es drei Jahre ist? Nur Kinderkrankheiten! Sonst nichts  … Genug der verwirrenden Zufälle! Leb wohl, mein Revier! Warum geht mir das Revier heute abend so hartnäckig im Kopf herum? Das grüne Licht … Dabei bin ich fürs ganze Leben mit ihm fertig … Na, genug jetzt … Schlafen.
     
    »Hier ist ein Brief. Jemand hat ihn mitgebracht.«
    »Geben Sie her.«
    Die Nachtschwester stand in meiner Diele. Den Mantel mit dem abgewetzten Fellkragen trug sie lose über dem gestempelten weißen Kittel. Auf dem billigen blauen Briefumschlag schmolz Schnee.
    »Haben Sie heute Dienst?« fragte ich gähnend.
    »Ja.«
    »Keiner da?«
    »Nein, alles leer.«
    »Schagen Schie mir Bescheid« (das Gähnen verzerrte mir den Mund und zerquetschte die Worte), »wenn wer gebracht wird. Ich leg mich schlafen.«
    »Gut. Kann ich gehen?«
    »Ja, gehen Sie.«
    Sie ging. Die Tür quietschte, ich schlurfte in meinen Pantoffeln ins Schlafzimmer und fetzte unterwegs mit den Fingern unordentlich den Umschlag auf. Er enthielt einen zerknitterten länglichen Rezeptvordruck mit dem
blauen Stempel meines Reviers, meines Krankenhauses. Das unvergeßliche Rezept … Ich lächelte.
    Komisch, den ganzen Abend denke ich an das Revier, und schon bringt es sich in Erinnerung. Eine Vorahnung …
    Unter dem Stempel war mit Tinte ein Rezept geschrieben. Lateinische Worte, unleserlich, durchgestrichen.
    »Versteh ich nicht. Verworrenes Rezept«, murmelte ich und starrte auf das Wort »morphini«. »Etwas ist ungewöhnlich an diesem Rezept. Ach ja, vierprozentige Lösung! Wer verschreibt denn vierprozentige Morphiumlösung? Wozu?«
    Ich drehte das Blatt um, und da verging mir das Gähnen. Auf der Rückseite stand in lasch hingeworfener Schrift:
    »11. Februar 1918
    Lieber Collega!
    Entschuldigen Sie, daß ich auf so einem Wisch schreibe. Ich habe kein Papier zur Hand. Ich bin sehr schwer und sehr böse erkrankt. Niemand ist da, der mir helfen könnte, und ich will auch bei keinem Hilfe suchen außer bei Ihnen.
    Schon den zweiten Monat sitze ich in Ihrem ehemaligen Revier. Ich weiß, daß Sie in der Stadt sind, nicht allzuweit von mir entfernt.
    Um unserer Freundschaft und unserer gemeinsamen Universitätsjahre willen bitte ich Sie, so schnell wie möglich zu mir zu

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