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Ascheträume

Ascheträume

Titel: Ascheträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Temporin
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ihr zu verstehen, dass sie Ruhe bewahren sollte. Dann nahm ich die Iris aus meiner Tasche, atmete ihren Duft ein, glitt auf ihren Blütenblättern hinab, stürzte ins Violett und wurde von meinen eigenen Augen verschlungen.
    Im Cinerarium fand ich mich vor der Bibliothek von Alexandria zwischen zwei Reihen Sphinxen wieder, die mir sechzehn verschiedene Rätsel stellten. Ich kannte nicht eine einzige Antwort. Und wahrscheinlich war es auch nicht die richtige Antwort gewesen, dorthin zurückzukehren. Was konnte ich schon tun? Ludkar von hinten überfallen? Um etwas gegen ihn ausrichten zu können, brauchte ich die Hilfe von Nate und Susan, und das sofort.
    Ich stand auf und blickte zum grauen Horizont. Der weiße Himmel voller Krater schien von einem Augenblick auf den nächsten zersplittern und auf mich herabstürzen zu wollen. Ludkar war nicht in der Nähe. Für den Moment war das ein Segen, aber es könnte sich auch als ernsthaftes Problem erweisen, wenn wir ihn stoppen wollten.
    Wenige Schritte von mir entfernt, erkannte ich Penny, Susan und Nate. Es schien fast so, als hätte ich sie in Gedanken zu mir gerufen (wobei es in Wirklichkeit wahrscheinlich genau andersherum war: Meine Gedanken hatten mich zu ihnen gebracht). Sie standen vor dem Portal unter den riesigen ägyptischen Statuen. Alle drei spähten hinter die Dünen.
    »Da passiert etwas«, sagte Nate, bevor er mich sah.
    »Ich weiß«, antwortete ich und machte ihn so auf mich aufmerksam.
    Mit aufgeregten Gesichtern kamen sie zu mir. Ich begegnete ihren Blicken und versuchte, entschlossen aufzutreten. Ich hoffte auf ihre Hilfe, aber auch sie schienen sich Hilfe von mir zu erwarten. Und dabei war ich nur ein Mädchen, das zwischen den Welten hin und her reiste.
    »Ludkar versucht gerade, in seinen Körper zurückzukehren.« Trotz meiner Anspannung versuchte ich mich so einfach und klar wie möglich auszudrücken.
    Nate wurde nachdenklich, sein Gesicht verfinsterte sich.
    »Wir haben ihn schreien gehört.«
    Ich zuckte zusammen. Dann war er also hier in der Nähe, auch wenn die Entfernungen im Cinerarium keine große Rolle spielten. Genau in diesem Augenblick zerriss ein teuflischer Schrei die Wüste. Eine Aschebö schlug uns entgegen, sie fuhr an die Säulen des Tempels, die Gesichter der Sphinxen und wehte ins Innere hinein. Und auf einmal brach ein Sturm los.
    »Da! Es ist so weit!«
    Ich drehte mich zu Susan, während der Wind auffrischte.
    »Geht wieder rein! Schnell!«
    Das Mädchen bedeckte ihre kleine Schwester mit ihrer Jacke und sah mich noch einmal an. Aschestaub klebte in ihrem Gesicht und hing zwischen ihren Wimpern. Aus ihrem Blick sprach so etwas wie Respekt und Kummer. Dann führte sie Penny weg, als die fürchterliche Asche die Bibliothek zu geißeln begann.
    Die zahllosen großen grauen Wolken, die mit einer enormen Geschwindigkeit über den Boden fegten, zwangen uns, Mund und Nase mit den Ärmeln zu bedecken.
    Nate versuchte, etwas zu sagen, aber das Getöse war so groß, dass nur verzerrter Lärm an meine Ohren drang. Also nickte er mir zu, und ich begriff, dass ich ihm folgen sollte. Mit gesenktem Kopf liefen wir in die offene Wüste und stemmten uns gegen den beißenden Wind.
    »Wir müssen es verhindern!«, sagte ich und rannte dicht neben Nate, damit er mich verstehen konnte. »Wir müssen unbedingt verhindern, dass Ludkar zum Himmel aufsteigt. Wenn es ihm gelingt, durch den schwarzen Mond zu kommen …«
    Als wir unsere zusammengekniffenen Augen hoben, sahen wir den Wirbel am Himmel. Der Tornado aus Staub und Tod erhob sich über uns. Er war immens. Entsetzlich, heulend drehte er sich um sich selbst wie das Tentakel einer urzeitlichen Kreatur.
    Ich duckte mich ruckartig: Über uns flogen ein paar Graue durch die Luft, mitgerissen vom Sturm wie Hampelmänner im Wind, eingesaugt vom Auge des Zyklons. Ich spürte, wie auch ich nach vorn gestoßen wurde. Wir befanden uns zwar in einiger Entfernung, aber die Anziehungskraft dieses Phänomens war erschreckend. Es war um vieles stärker als der Tornado, der Claytons Seele in seinen Körper zurückgeführt hatte.
    Ludkars Seele – wenn man das überhaupt eine Seele nennen konnte – musste wahrlich einen großen Willen haben, in ihre verfluchte Wohnung zurückzukehren.
    Nate schubste mich, und ich fiel auf den Boden. Ich landete auf den Händen und sah, wie er sich neben mich warf. Ich drehte mich auf den Rücken. Neben den Grauen fegten nun auch Teile der Bibliothek, eine ganze Sphinx,

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