Ash Mistry und der Dämonenfürst (German Edition)
Ashs Lieblingsgeschichte.
Das Zentrum des Gemäldes nahm ein riesiger goldener Krieger ein, dessen Augen vor Zorn blitzten, während er den Mund zu einem wütenden Schrei aufgerissen hatte. Er schwang zwei gewaltige Schwerter, mit denen er links und rechts Männer abschlachtete.
Überall um ihn herum lagen Tote und hinter ihm hatte sich seine Armee von Dämonen versammelt: hässliche Mischwesen, die halb Mensch, halb Tier waren, mit Schuppen oder Fell, Schwänzen oder Flügeln.
Dies war Ravana, der Dämonenfürst.
Am hinteren linken Ende der Mauer, so weit entfernt, dass man hätte meinen können, er gehöre gar nicht dazu, stand ein Krieger mit Pfeil und Bogen, der auf Ravana zielte. Den Pfeil hatte der Künstler besonders sorgfältig ausgearbeitet: Um die Spitze loderten Flammen und die Innenfläche war mit Blattgold ausgelegt, denn dies war nicht irgendein Pfeil. Es war ein Aastra , eine Waffe, in der die Macht eines Gottes schlummerte.
Die Szene stellte den letzten Augenblick im Leben des Dämonenkönigs dar. Gleich würde der Pfeil, der Aastra, losfliegen und sein Herz durchbohren, um ihn zu vernichten – eine Heldentat, die nur ein Einziger vollbringen konnte: der Held Rama.
»Wie findest du es?«, ertönte hinter ihm eine Stimme.
Jemand trat aus den Schatten und kam langsam auf Ash zu.
» Namaste «, begrüßte er den Fremden, der eindeutig Engländer war: Er trug einen feinen weißen Leinenanzug und dazu ein helles Seidenhemd. Die einzigen zwei Farbtupfer waren seine blauen Augen, zwei strahlende Splitter aus Eis. Ash stockte der Atem, als der Mann in den Schein einer Laterne trat.
Es war, als hätte man sein Gesicht zerschmettert und dann tollpatschig wieder zusammengefügt. Die Haut war durchzogen von tiefen, ungleichmäßigen Furchen und schimmerte transparent wie Wachs, sodass man darunter das zarte Aderwerk sah. Von der mit Leberflecken übersäten Glatze sprossen spröde Büschel aus weißem Haar.
Seine Hand, die in einem Handschuh steckte, umklammerte den silbernen Tigerkopf-Knauf seines Gehstocks. Die Rubinaugen des Tiers funkelten, als würden sie Ash mit ihrem Blick durchbohren wollen. Der Mann neigte den Kopf zum Gruß.
»Ich bin Alexander Savage.«
Kapitel 2
»Ash Mistry«, erwiderte Ash leise.
»Er ist prachtvoll, nicht wahr?«, meinte Savage und strich mit den Fingern über die Züge des Dämonenfürsten. »Selbst so kurz vor seinem Untergang kämpfte er bis zum Letzten.«
»Er ist grauenhaft.« Ash war selbst nicht sicher, ob er damit das abstoßende Fries oder Savage meinte.
»Findest du? Warum?«
»Er war der Dämonenfürst. Er wollte die ganze Welt vernichten.«
»Und die Welt ist ja ein so schöner Ort, nicht?«
Ash schaute sich erneut die wütenden Augen von Ravana an. Das Gesicht schien nahezu lebendig, wie eine Fratze aus arrogantem Zorn und purem Hass. »Wenigstens ist sie keine Hölle. Aber das war es, was Ravana vorhatte – eine Welt für Dämonen erschaffen.«
Savage betrachtete ihn forschend und tappte dann mit seinem Gehstock auf den Steinweg. »Gut gesprochen, Junge, gut gesprochen.«
Da löste sich eine Frau aus der Menschenmenge und kam auf sie zu. In ihrem weißen Seidensari, der mit zarten spinnennetzartigen Ornamenten bestickt war, ragte sie über Ash auf wie eine gertenschlanke Göttin. Aus der Nähe sah Ash, dass sie kräftig geschminkt war. Auf ihrem Gesicht lag eine Puderschicht, die so dick war, dass ihre Züge glatt und starr wirkten, so leblos wie die einer Schaufensterpuppe. Ihre tiefschwarzen Haare waren kunstvoll zu acht runden Zöpfen geflochten. Als der Blick der Frau an Ash hängen blieb, bemerkte er den Ansatz eines herablassenden Lächelns und sah sein Spiegelbild in den Gläsern ihrer großen Sonnenbrille. Er wirkte klein und unbedeutend.
»Sir, die Vorstandschaft ist angekommen«, sagte sie.
»Es war ein interessantes Gespräch«, wandte Lord Savage sich verabschiedend an Ash. »Noch viel Vergnügen auf der Feier.« Er nahm die Frau an der Hand und wagte sich in die Masse an Gästen. Kurz bevor sich das Menschenmeer um ihn schloss, warf Savage mit einem verbissenen Lächeln einen letzten Blick zurück auf Ash.
»Wo ist denn nur deine Schwester?« Wie aus dem Nichts war Tante Anita neben Ash aufgetaucht.
»Wahrscheinlich auf dem Klo.«
Ausnahmslos jeder bekommt Probleme mit dem Magen, wenn er Bekanntschaft mit Indien macht. Nun ja, jeder außer Ash. Vik hatte deswegen bereits dämliche Bemerkungen gemacht und den Witz gerissen, dass
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