Ashford Park
es diesmal keine. Logisch. Auf den Fotos waren keine Menschen. Sie brauchte auch gar keine Namen. Sie kannte diese Handschrift.
Als das Telefon läutete, ließ Clemmie den Anrufbeantworter übernehmen. 1976 . Sie war elf gewesen. An der Richtigkeit der Datierung der Bilder brauchte man nicht zu zweifeln; der Stil der Fotos und die verwendeten Farben sahen alle nach siebziger Jahre aus. Man würde einen Fachmann brauchen, um es genauer festzustellen.
«Clemmie?», hörte sie Jons Stimme vom Anrufbeantworter. «Clemmie, bist du da? Komm, heb ab.»
Sie schob das Bild weg und schnappte sich das Telefon. «Jon?»
«Du wirst es nicht glauben!» Seine Stimme war aufgeregt. «Ich kann’s selbst kaum fassen, aber ich glaube, ich habe sie gefunden. Ich habe Bea gefunden.»
Clemmie schaute zu den Bildern auf dem Küchentisch hinunter.
Dove Mountain, 1976
.
«Ich auch.»
Jon traf dreißig Minuten später mit einem großen Ordner ein.
«Das ging aber schnell.»
«Ach, mit der U-Bahn …» Er sah aus, als wäre er den ganzen Weg von der U-Bahn gerannt. Seine Haare waren durcheinander, sein Gesicht war rot. Er hatte etwas Jungenhaftes, was Clemmie ziemlich liebenswert fand.
Sie trat zur Seite, um ihn einzulassen. «Tief durchatmen», sagte sie. «Warte, gib mir deine Jacke.»
«Danke.» Jon überließ ihr die Jacke, doch nicht den Ordner. Sein Hemd klebte ihm feucht am Körper. Er dampfte förmlich vor Hitze. «Es ist sehr … gemütlich.»
Clemmie ließ die Tür los, die ein wenig zu laut zufiel. Sie zuckte unwillkürlich zusammen, als Holz und Metall zusammenkrachten. «Es ist ein Dach über dem Kopf.»
«Hm», machte Jon, während sein Blick durch ihre Schlafzimmernische wanderte, über das zerwühlte Bettzeug auf dem ungemachten Bett, die seidene Pyjamajacke, die in einem unordentlichen Häufchen auf dem Boden lag. Das vom Licht der späten Nachmittagssonne gesprenkelte aufgeschlagene Bett mit den zum Boden herabhängenden Decken hatte etwas Wolllüstiges.
Vielleicht hätte sie sich lieber in einem Café, einer Bar oder irgendeinem neutralen Ort mit Jon treffen sollen. Sie hatte immer noch das Wickelkleid an, das sie beim Tee mit ihrer Mutter getragen hatte. In ihrer unordentlichen, verstaubten Wohnung kam es ihr völlig übertrieben vor.
«Ich ziehe sowieso in einem Monat nach London.» Clemmie hängte Jons Jacke über eine Stuhllehne. «Du weißt schon. Der Job, von dem ich dir erzählt habe. Bei PharmaNet.»
Jon legte seinen Ordner auf ihren Küchentisch zu den Bildern. Sein Blick hielt den ihren fest. «Du gehst also tatsächlich?»
Clemmie nickte. «Sie möchten, dass ich am 1 . April anfange. Es ist ein gutes Angebot. Großer Verantwortungsbereich, Sozialleistungen, alles, was das Herz begehrt.»
«In London», sagte Jon.
«Warum nicht?», meinte Clemmie unbekümmert. «In New York hält mich im Moment nichts. Kein CPM mehr, keine Granny Addie, und ob du’s glaubst oder nicht, meine Mutter hat jetzt einen Freund.»
Er erwiderte ihr Lächeln nicht. Er ging nicht auf ihren leichten Ton ein. Stattdessen stützte er sich mit beiden Händen auf die Stuhllehne und sagte mit einer Stimme, die heiser und kratzig klang: «Geh nicht.»
Sie spürte die Angst-Flucht-Reaktion ihres Körpers, in dem sich jeder Nerv spannte. Trotzdem versuchte sie, den leichten Ton beizubehalten. «Kannst du mir einen guten Grund nennen, warum ich bleiben sollte?»
«Bleib für mich», sagte Jon.
Sie starrte ihn an.
Jon lächelte schief. «Das klingt unglaublich arrogant, ich weiß. Dann bleib nicht für mich. Bleib dafür.» Er breitete die Arme nach ihr aus, und sie ging zu ihm, als wäre es das Natürlichste von der Welt. Er senkte den Kopf, sodass der Hauch seiner geflüsterten Worte ihre Wange kitzelte, ihre Lippen streifte. «Bleib für uns.»
Das Hupen der Taxis auf der Straße, die klimpernden Klaviertonleitern irgendwo im Haus verklangen, als er sie küsste, mit einer Leidenschaft, als müssten sie die Küsse von fünfzehn Jahren nachholen, all die Küsse, zu denen es nie gekommen war. Clemmie spürte das gestärkte Leinen seines Hemdes unter ihren Fingern, die feinen Härchen in seinem Nacken, das Kratzen seiner Bartstoppeln an ihrer Wange. Es war, dachte sie verschwommen, das erste Mal, dass sie sich in nüchternem Zustand küssten. Keine Entschuldigungen, keine Möglichkeit, hinterher alles zu bagatellisieren, kein Alkoholrausch, auch wenn ihr der Kopf schwamm, als hätte sie reinen Tequila getrunken.
Doch
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