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Astragalus

Titel: Astragalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albertine Sarrazin
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    Später, lange, nachdem Eddie und Ginette ins Bett gegangen waren, öffnete Julien die Tür; er bewegte sich wie ein Schatten, ohne Licht zu machen, ohne irgendwo anzustoßen. Als er neben mir stand, richtete er einen von den Fingern abgeschirmten Taschenlampenstrahl auf das Bett und setzte sich.
    Ich sah nur seine Umrisse und zwei helle Hände. Ich ergriff eine davon und strich seinen nackten Arm hinauf, hielt am Pyjamaärmel inne, der über einem steinharten Bizeps aufgekrempelt war … Vier Jahre, ohne einen Männerarm berührt zu haben.
    »Magst du weißen Rum?«
    Ich hatte noch nie welchen getrunken; ich sagte aufs Geratewohl Ja.
    In der vom schwachen Lampenschein auf dem Nachttisch durchbrochenen Dunkelheit des Zimmers sahen wir uns kaum, und wir sprachen ganz leise, um die Kinder nicht zu wecken.
    In den ganzen vier Jahren brachte mir die Nacht hartnäckig denselben Traum: eine Gestalt, eine Stimme, eine Anwesenheit; einen Mann, den ich tagsüber wütend wegstieß, nachdem ich ihn nachts gerufen hatte; einen sehr großen, schützenden Schatten, der manchmal »eiei… einsam« rief, eine Stimme, die mir immer voraus war.
    »Was werden wir alles träumen, ich kann dir sagen!«
    Und wir kicherten unter den erstaunten oder empörten Augen der braven Mütter und braven Ehefrauen.
    »Sechs von zehn waren wegen Kindesmord da«, erklärte ich Julien. »Und weil von den vier anderen drei Luschen waren, bildeten wir eine Clique, eine ganz kleine Clique. In dem Vierteljahr Einzelhaft strickt man Unterhemden für die Kleiderkammer und macht Musternähte auf Schirting, die man in ein Heft klebt, danach stufen sie die Mädchen ein. Man wird gewogen, gemessen, getestet. Dann kommt man runter in die Gruppe. Gespräche zwischen den Gruppen waren verboten; jede hatte ihren Essraum, ihren Spielsaal, ihre Erzieherin. So ein Blödsinn, in den Arbeitsräumen waren wir alle zusammen, und man quatscht und befreundet sich ja meistens tagsüber. Stell dir das Hin und Her zwischen den Gruppen vor, abends alle Mädchen am Fenster, wie sie herumschrien und sich riefen, die Zettelchen und alles. Cine und ich waren Zellennachbarinnen. Morgens schob die Erzieherin die Riegel zurück (›Guten Morgen, Anne, haben Sie gut geschlafen?‹ Und ich: ›Ja, ja, M’zelle!‹), dann verdrückte sie sich nach unten in die Küche. Cine kam und half mir beim Aufstehen … du verstehst schon. Außerdem mussten wir uns fertigmachen, um mit den anderen zum Frühstück runterzugehen, ein richtiger Marathon. Oder ich ging Cine wecken; aber das nervte mich. Ihr Sofatischchen – ja, wir hatten unsere Sofaecke mit Cretonne-Deckchen, unser Kuschelkämmerchen sozusagen –, ihr Tischchen jedenfalls war voller Fotos von ihren Kindern und ihrem Mann. Ich zog meine Bude vor, eine der wenigen ohne Kinder und Männer. Wir trafen uns bei mir mit den anderen von der Clique … Na ja, alles lief gut, bis zu dem Tag, als die dreckigen Arschgeschichten anfingen.«
    »Als ich im Bau war …«, sagte Julien.
    Ich wusste es! »Mach bloß nicht den Mund auf.« Dieser schleichende Gang, wie im Profil, unsere unerklärliche, absolute Verwandtschaft vom ersten Moment an … Ginette hatte mir zwar gesagt, ihr Bruder sei »ein Gauner«, aber ich hatte das nur als Freundlichkeit mir gegenüber aufgefasst, weil ich aus dem Bau kam. Lange vor ihren Worten hatte ich Julien erkannt. Es gibt Stigmata, unsichtbar für alle, die nie im Knast waren, eine Art zu sprechen, ohne die Lippen zu bewegen, während die Augen zur Tarnung Gleichgültigkeit oder das Gegenteil vom Gesagten ausdrücken; die Zigarette in der hohlen Hand; nachts zu handeln oder auch nur zu reden, nach dem Schweigezwang des Tages.
    Der Rum in der Flasche wurde weniger, die Nacht näherte sich raunend der Dämmerung. Julien saß, ich lag, ich fand es einfach und natürlich, den Kopf an seine Brust zu legen, mich umarmen zu lassen, von den Knien an zur Kugel gerollt, mein Schmerz woanders zwischengelagert.
    »Ich hasse die Männer. Nein, nicht mal das, ich habe sie vergessen. Siehst du, Julien, wie sich meine Hände runden, wenn sie deine Brust streicheln, du kommst mir so hart vor, ich bin so schwach.«
    Julien holte mich zum Mann zurück.
    Glücklich sagte ich immer wieder: »Bleib noch, bleib …«
    »Ich muss runter. Wegen meiner Mutter: Ich schlafe in ihrem Zimmer, und …«
    »Bleib noch …«
    »Ein paar Minuten.«
    »Ich schlafe nicht ein. Ich wecke dich.«
    Ich erinnerte mich nicht, seit meinem Sturz

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