Astragalus
durchströmen.
»Ich möchte fortgehen, aber wohin? Verführen, aber wen? Schreiben, aber was?«
Wer sich zu Albertines Jüngern zählt, muss sich auch vor der Übersetzerin Patsy Southgate verneigen. 1968 war auch sie noch unerkannt – eine atemberaubende Blondine mit eisblauen Husky-Augen, die für die Paris Review schrieb und übersetzte. Als ich ein Foto von ihr fand, wie sie mit ihren kurz geschnittenen Haaren in einem Pariser Café sitzt, war das eine Offenbarung. Ich klebte es an meine Wand neben Albertine, Falconetti, Edie Sedgwick und Jean Seberg, alles Frauen mit kurzen Haaren, meine Heldinnen dieser Tage.
Patsy Southgate war ein Mysterium. Als privilegiertes und vernachlässigtes Kind wusste sie instinktiv, wie sie in Astragalus hineinfinden konnte, und spürte wohl eine innere Verwandtschaft zu ihrem Gegenstand. Sie war intelligent, hochkompliziert und fühlte sich leidenschaftlich zu allem hingezogen, was französisch war – ein expatriierter Liebling der Post-Beatniks und bekanntermaßen von Frank O’Hara vergöttert. Sie war ein Kind aus gutem Hause, einsam und streng erzogen, doch sie hatte eine französische Gouvernante namens Louise, die ihr weit mehr Zärtlichkeit schenkte als ihre eigenen Eltern. Als Louise nach Paris zurückging, um zu heiraten, war Patsy am Boden zerstört: Sie verbrachte einen Großteil ihres Lebens damit, sich nach ihrer imaginären Mutter zu sehnen, der wahren Mutter ihrer erfundenen französischen Seele.
Und wer war Albertines Mutter? Unter dem Namen Anne-Marie Albertine Damien wurde Albertine 1937 in Algerien geboren und weggegeben. Ihre Herkunft blieb immer im Ungewissen, und vielleicht hätte nur eine ganze Reihe von DNA-Tests sie enthüllen können. Vielleicht war sie die Tochter einer spanischen Tänzerin und eines Matrosen? Oder das uneheliche Kind ihres Adoptivvaters und seines jüdisch-algerischen Dienstmädchens? Liebe und Konflikt in jedem Fall, und der Nährboden für eine Randexistenz. Sie war ein frühreifes, kleines Ding und hätte aufgrund ihrer großen Begabungen – sie glänzte in Latein und Literatur, brillierte auf der Geige – eine Schulausbildung und ein ausgefülltes musikalisches Leben genießen sollen. Doch der Mangel an liebender Fürsorge und eine Kette schrecklicher äußerer Ereignisse lenkten ihren Weg für immer in eine andere Richtung.
Mit zehn wurde sie von einem Mitglied der Familie ihres Adoptivvaters vergewaltigt. Nachdem sie versucht hatte zu fliehen, steckten ihre Eltern sie in eine Besserungsanstalt für Mädchen, die paradoxerweise Der gute Hirte hieß. Es war ein heruntergekommener Ort, wo sie gedemütigt und ihr der Taufname Anne-Marie entzogen wurde. Mit dreizehn schrieb sie ihre Notizen in ein Ringbuch, ein kostbarer Beleg für ihre Beobachtungsgabe; es wurde konfisziert, weil man ihr Maiglöckchenparfum als zu aufdringlich erachtete. Sie war zierlich und hübsch, gerüstet mit dem kritischen Geist einer Heiligen Johanna vor Gericht. Sie flüchtete aus der Erziehungsanstalt und tauchte ein in die Straßen von Paris, um schließlich das Leben eines Strichmädchens und einer kleinen Ganovin zu führen. Mit achtzehn wurde sie, gemeinsam mit einer Komplizin, verhaftet und wegen bewaffneten Raubüberfalls zu sieben Jahren Haft verurteilt. Ihr letzter Gefängnisaufenthalt, sie hatte eine Flasche Whisky gestohlen, war 1963 und dauerte vier Monate. Während all dieser Phasen schrieb sie: die ganze Jugend hindurch, in Zeiten der Liebe und der Verlassenheit, ob im Gefängnis oder in Freiheit, sie schrieb.
Das Leben ist oft besser als Kino. Wie ist ihr Film ausgegangen? Traurig, in einem Krankenhaus, wo sie Julien müde anlächelte, um dann ihr Schicksal in die Hände eines fahrlässigen Anästhesisten zu legen. Welche Träume verbargen sich, als sie fortgerollt wurde, hinter diesen schweren, von einem Kajal-Halbmond gekrönten Augenlidern – eine Zukunft mit Julien, Frieden, Erfolg und Anerkennung? All das war möglich, denn zuletzt standen sie an der Schwelle zu einem anderen Leben. Sie hatten geheiratet, sich vom Verbrechen losgesagt. Verlassen hat sie die geliebte Welt, wie sie sie betreten hat – auf einer Wolke der Vernachlässigung.
Die Heilige Albertine mit der Einwegfeder und dem unerschöpflichen Kajal. Ich lebte ganz in ihrer Sphäre. Ich stellte mir vor, wie sich der blaue Rauch ihrer Zigarette um ihre Nasenlöcher kräuselt, sich durch die Blutbahnen bewegt und auf die Herzkammern legt. Meine Atemwege waren zu
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