Astragalus
1
Der Himmel war mindestens zehn Meter weiter weg.
Ich blieb sitzen, nur keine Eile. Der Aufprall hatte wohl die Steine zerschmettert, meine rechte Hand tastete über Kiesel. Mit jedem Atemzug dämpfte die Stille die explodierenden Sterne, deren Funken noch in meinem Schädel prasselten. Die weißen Flächen der Steine leuchteten schwach in der Dunkelheit. Meine Hand löste sich vom Boden, strich über den linken Arm hinauf bis zur Schulter, über Rippen hinunter bis zum Becken: nichts. Ich war unversehrt, ich konnte weiter.
Ich stand auf. Als es mich mit ausgebreiteten Armen, das Gesicht voran, in die Dornensträucher katapultierte, fiel mir ein, dass ich versäumt hatte, auch meine Beine zu kontrollieren.
Die Nacht durchdringend sangen weise, vertraute Stimmen: »Pass auf, Anne, du wirst dir noch die Haxen brechen!«
Ich setzte mich auf und fing wieder an, mich zu untersuchen. Diesmal stieß ich in Höhe des Knöchels auf eine seltsame Beule, die unter meinen Fingern anschwoll und pulsierte.
Dass ich zur Sprechstunde komme, Doktor, und versuche mich krankzumelden, Ihnen erfundene Schmerzen an Stellen beschreibe, die ich für unzugänglich halte; dass ich euch auf meinen mustergültigen Läuferfüßen Kräutertee ans Bett bringen muss, kleine Schwestern, und euch um eure Magenverstimmung beneide – mit alldem ist Schluss. Jetzt werdet ihr mich pflegen, ihr oder andere, ich habe mir die Haxe gebrochen.
Ich sah nach oben zum Mauersims, wo diese Welt schlafend zurückblieb. Ich bin geflogen, meine Süßen! Ich bin geflogen, geschwebt und gekreiselt, eine Sekunde, die lang war und gut, ein Jahrhundert. Und jetzt sitze ich hier, befreit von da oben, befreit von euch.
Heute Nachmittag war ich noch mit Atropin vollgepumpt und hatte mir Benzin in die Schenkel gespritzt. Jetzt, da Rolande frei war, hatte ich überhaupt keine Lust zu warten, bis sie zurückkommt und mich holt: Ich sah zu, dass ich auf der Krankenstation landete, wo die Portionen größer waren und die Tage schneller zerrannen.
»Sie sind ja ganz grün!«, sagte die Erzieherin beim Abendrundgang.
»Ich habe mich bestimmt an der Wand gerieben«, sagte ich und spürte, wie mein Gesicht leichenblass wurde, während ich mich verrenkte, als wollte ich den Rücken meines Kittels sehen. Die Wände im Gruppenraum wurden gerade gestrichen, eine gelb, eine blau, zwei grün, und die Fensterbretter orange, um die Sonne zu erfinden.
»Nein, Sie selbst sind grün! Ihr Gesicht. Ist Ihnen schlecht?«
Aber ich kam nicht mehr dazu, meinen ersten Lindenblütentee zu genießen; ich würde nicht den sanften Hang hinter dem Tor hinunterwandern, auf der anderen Seite der Mauer. Ich bin lieber gesprungen. Immerhin bin ich unten, nicht weit von der Straße, bis dahin muss ich es schaffen; sie werden mich doch nicht zwei Schritte neben der Mauer aufsammeln!
Der Ort und der Abend, wo ich Rolande wiedersehe, sind noch fern. Als Erstes muss ich diese Beule, die mich am Laufen hindert, bis zur Straße schleppen … zwei-, dreimale versuche ich, die Ferse aufzusetzen – der Blitz flammt auf, schießt durch mein Bein.
Wenn die Füße nutzlos sind, gehe ich halt auf Ellbogen und Knien. Ich krieche zwanzig Meter, lande im Gebüsch, stoße wieder auf die Steine, versuche mich zu orientieren.
Ein weiteres Jahrhundert muss vergangen sein, ich erkenne nichts mehr.
Mein Knöchel ist wie einzementiert, Unter- und Oberschenkel im rechten Winkel; ich trage ihn wie ein nach oben gerecktes Gewicht, er kippt ins Geröll und in die Krallen der Büsche. Die Nacht ist undurchdringlich. Von da oben hatte ich in den letzten Monaten immer wieder auf das Gestrüpp direkt neben der Landstraße gestarrt, ich war sicher, dass ich mich mit geschlossenen Augen zurechtfände. Meine Pläne gingen noch nicht so weit, aber die ständige Versuchung, zu springen und zu fliehen, bahnte sich von selbst ihren Weg. Und während ich der Herde der Mädchen zulächelte, die sich ängstlich um die Erzieherin drängte, während ich Rolandes Hand drückte, die in meine Tasche geschlüpft war, flog ich die Steine hinunter und stand auf, hu-hu, spottend und geläutert …
Und wir kehrten zögernd zurück ins Licht. Ich ließ die Hand meiner Freundin in meiner Tasche los und drang in ihre ein, um durch den Stoff hindurch das Hin und Her des Gelenks zu ertasten. Rolande, ich spüre, wie dein Knochen läuft … Wir kicherten unter dem Mantel, und der Zellentrakt mit seinem hellen Licht kassierte die Träume bis zum
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