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Atemschaukel

Titel: Atemschaukel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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gewachsten Bündeln auf bittergrünem Kraut mit kantigen Stengeln.
    Und wie schnell hab ich dann mit hochgezogener Lippe alle gefrorenen Kartoffelschalen gegessen. Eine Schale gleichhinter die andere in den Mund geschoben, ohne Lücke wie der Hunger. Ohne Unterlass, alle am Stück sind sie ein einziges langes Kartoffelschalenband.
    Alle, alle, alle.
    Und es kommt der Abend. Und alle kommen von der Arbeit heim. Und alle steigen in den Hunger. Er ist ein Bettgestell, wenn ein Hungriger den anderen Hungrigen zuschaut. Aber das täuscht, ich spüre an mir, der Hunger steigt in uns hinein. Wir sind das Gestell für den Hunger. Wir alle essen mit geschlossenen Augen. Wir füttern den Hunger die ganze Nacht. Wir mästen ihn hoch auf die Schaufel.
    Ich esse einen kurzen Schlaf, dann wache ich auf und esse den nächsten kurzen Schlaf. Ein Traum ist wie der andere, es wird gegessen. Es gibt eine Gnade des Esszwangs im Traum, und die ist eine Qual. Ich esse Hochzeitssuppe und Brot, gefüllte Paprika und Brot, Baumtorte. Dann werde ich wach, schau ins kurzsichtige gelbe Dienstlicht der Baracke, schlaf wieder ein und esse Kohlrabisuppe und Brot, sauren Hasen und Brot, Erdbeereis im Silberbecher. Danach Nussnudeln und Offizierskipfel. Und dann Klausenburger Kraut und Brot, Rumtorte. Dann Kesselfleisch vom Schweinskopf mit Meerrettich und Brot. Zuletzt hätte ich noch Rehkeule mit Brot und Aprikosenkompott gehabt, aber der Lautsprecher plärrt mittenhinein, denn es ist Tag. Der Schlaf bleibt dünn, je mehr ich esse, und der Hunger wird nie müde.
    Bei den ersten drei von uns, die am Hunger gestorben sind, wusste ich genau, wer sie sind und die Reihenfolge ihres Todes. Ich dachte ein paar lange Tage an jeden der drei. Aber die Zahl Drei bleibt niemals die erste Zahl Drei. Jede Zahl wird abgeleitet. Und abgehärtet. Wenn manselbst eine Knochenhaut und körperlich nicht mehr gut beieinander ist, hält man die Toten tunlichst von sich weg. Denn es gab in den Spuren der Mathematik, im März, im vierten Jahr schon dreihundertdreißig Tote. Da kann man sich die deutlichen Gefühle nicht mehr leisten. Da hat man nur noch kurz an sie gedacht.
    Die fade Stimmung hat man abgestreift. Den Anflug einer mürben Trauer weggejagt, und zwar schon kurz bevor sie kam. Der Tod wird groß und sehnsüchtig nach allen. Man darf sich nicht mit ihm abgeben. Man muss ihn wegscheuchen wie einen lästigen Hund.
    Nie mehr war ich so entschieden gegen den Tod wie in diesen fünf Lagerjahren. Gegen den Tod braucht man kein eigenes Leben, nur eines, das noch nicht ganz zu Ende ist.
    Aber die ersten drei Toten im Lager sind:
    Die taube Mitzi von zwei Waggons zerquetscht.
    Die Kati Meyer im Zementturm verschüttet.
    Die Irma Pfeifer im Mörtel erstickt.
    Und in meiner Baracke ist der erste Tote der Maschinist Peter Schiel, vergiftet mit Steinkohleschnaps.
    Die Todesursache heißt bei jedem anders, aber mit ihr dabei war immer der Hunger.
    In den Spuren der Mathematik habe ich einmal beim Rasierer Oswald Enyeter in den Spiegel gesagt: Alles Einfache ist reines Resultat, und ein Gaumensegel hat jeder. Der Hungerengel wiegt jeden, und mit denen, die lockerlassen, springt er von der Herzschaufel. Das ist sein kausales Prinzip und sein Hebelgesetz.
    Beides ist zwar nicht zu verachten, aber auch nicht zu verzehren, hat der Rasierer gesagt. Auch das ist ein Gesetz.
    Ich habe in den Spiegel geschwiegen.
    Deine Kopfhaut ist voll mit Eiterblümchen, hat der Rasierer gesagt, da hilft nur noch die Nullerschere.
    Was für Blümchen, hab ich gefragt.
    Es war eine Wohltat, als er anfing, mich kahlzuscheren.
    Eines ist sicher, hab ich mir gedacht, der Hungerengel kennt seine Komplizen. Er hätschelt sie, dann lässt er sie fallen. Dann zerbrechen sie. Und er mit ihnen. Er ist aus demselben Fleisch, das er betrügt. Auch das ist sein Hebelgesetz.
    Und was soll ich jetzt dazu sagen. Alles, was geschieht, ist immer das Einfache. Seine Reihenfolge hat ein Prinzip, wenn es dauert. Und wenn es fünf Jahre dauert, wird es undurchschaubar und nicht mehr beachtet. Und mir scheint, wenn man es später erzählen will, ist nichts da, was sich nicht einfügen ließe: Der Hungerengel denkt richtig, fehlt nie, geht nicht weg, kommt aber wieder, hat seine Richtung und kennt meine Grenzen, weiß meine Herkunft und seine Wirkung, geht offenen Auges einseitig, gibt seine Existenz immer zu, ist ekelhaft persönlich, hat einen durchsichtigen Schlaf, ist Experte für Meldekraut, Zucker und Salz, Läuse

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