Atemschaukel
mich in Worten nie auspacken. Ich packe mich nur anders ein, wenn ich rede.
Im letzten Rendezvous-Sommer bin ich, um den Heimwegaus dem Erlenpark zu verlängern, auf dem Großen Ring zufällig in die Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit gegangen. Dieser Zufall spielte Schicksal. Ich habe die kommende Zeit gesehen. Neben dem Seitenaltar auf einer Säule stand der Heilige im grauen Mantel und trug als Mantelkragen ein Schaf im Nacken. Dieses Schaf im Nacken ist das Schweigen. Es gibt Dinge, über die man nicht spricht. Aber ich weiß, wovon ich rede, wenn ich sage, das Schweigen im Nacken ist etwas anderes als das Schweigen im Mund.
Vor, während und nach meiner Lagerzeit, fünfundzwanzig Jahre lang habe ich in Furcht gelebt, vor dem Staat und vor der Familie. Vor dem doppelten Absturz, dass der Staat mich als Verbrecher einsperrt und die Familie mich als Schande ausschließt. Im Gewühl der Straßen habe ich in die Spiegel der Vitrinen, Straßenbahn- und Häuserfenster, Springbrunnen und Pfützen geschaut, ungläubig, ob ich nicht doch durchsichtig bin.
Mein Vater war Zeichenlehrer. Und ich, mit dem Neptunbad im Kopf, zuckte wie von einem Fußtritt zusammen, wenn er das Wort AQUARELL benutzte. Das Wort wusste, wie weit ich schon gegangen war. Meine Mutter sagte bei Tisch: Stich die Kartoffel nicht mit der Gabel an, sie fällt auseinander, nimm den Löffel, die Gabel nimmt man fürs Fleisch. Mir pochten die Schläfen. Wieso redet sie vom Fleisch, wenn es um Kartoffel und Gabel geht. Von welchem Fleisch spricht sie. Mir hatten die Rendezvous das Fleisch umgedreht. Ich war mein eigener Dieb, die Wörter fielen unverhofft und erwischten mich.
Meine Mutter und besonders mein Vater glaubten, wie alle Deutschen in der Kleinstadt, an die Schönheit blonder Zöpfe, weißer Kniestrümpfe. An das schwarze Viereck vonHitlers Schnurrbart und an uns Siebenbürger Sachsen als arische Rasse. Mein Geheimnis war, rein körperlich betrachtet, schon höchste Abscheulichkeit. Mit einem Rumänen kam noch Rassenschande dazu.
Ich wollte weg aus der Familie und sei es ins Lager. Nur tat es mir um meine Mutter leid, die nicht wusste, wie wenig sie mich kennt. Die, wenn ich weg bin, öfter an mich denken wird als ich an sie.
Neben dem Heiligen mit dem Schaf des Schweigens im Nacken hatte ich in der Kirche die weiße Wandnische mit der Inschrift gesehen: DER HIMMEL SETZT DIE ZEIT IN GANG. Als ich meinen Koffer packte, dachte ich: Die weiße Nische hat gewirkt. Das ist jetzt die in Gang gesetzte Zeit. Ich war auch froh, dass ich nicht in den Krieg ziehen muss, in den Schnee an die Front. Ich ging dümmlichtapfer und gefügig ans Kofferpacken. Ich wehrte mich gegen nichts. Ledergamaschen mit Schnürchen, Pumphosen, Mantel mit Samtbündchen – nichts passte zu mir. Es ging um die in Gang gesetzte Zeit, nicht um Kleider. Ob mit diesen Sachen oder anderen, erwachsen wird man sowieso. Die Welt ist zwar kein Kostümball, dachte ich, aber lächerlich ist keiner, der im tiefsten Winter zu den Russen fahren muss.
Eine Patrouille aus zwei Polizisten ging mit der Liste von Haus zu Haus, ein Rumäne und ein Russe. Ich weiß nicht mehr, ob die Patrouille bei uns im Haus das Wort LAGER ausgesprochen hat. Und wenn nicht, welches andere Wort außer RUSSLAND. Und wenn ja, dann hat mich das Wort Lager nicht erschreckt. Trotz Kriegszeit und dem Schweigen meiner Rendezvous im Nacken steckte ich mit meinen siebzehn Jahren immer noch in einer hellen dummen Kindheit.Mich trafen die Wörter Aquarell und Fleisch. Für das Wort LAGER war mein Hirn taub.
Damals bei Tisch mit den Kartoffeln und der Gabel, als die Mutter mich mit dem Wort Fleisch erwischte, fiel mir auch ein, dass ich als Kind im Hof unten spielte und die Mutter aus dem Verandafenster schrie: Wenn du nicht gleich zu Tisch kommst, wenn ich jetzt noch mal rufen muss, kannst du bleiben, wo du bist. Weil ich dann noch eine Weile unten blieb, sagte sie, als ich oben ankam:
Jetzt kannst du dir den Ranzen packen und in die Welt gehen und machen was du willst. Dabei zerrte sie mich ins Zimmer, nahm den kleinen Rucksack und stopfte meine Wollkappe und Jacke hinein. Ich fragte: Aber wo soll ich hin, ich bin doch dein Kind.
Viele Leute meinen, Kofferpacken gehört zu den Übungssachen, man lernt es von selbst wie Singen oder Beten. Wir hatten keine Übung und auch keinen Koffer. Als mein Vater an die Front zu den rumänischen Soldaten musste, gab es nichts zu packen. Als Soldat kriegt man alles, es gehört
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