Atemschaukel
brauche viel Nähe, aber ich gebe mich nicht aus der Hand. Ich beherrsche das seidene Lächeln im Zurückweichen. Seit dem Hungerengel erlaube ich niemandem, mich zu besitzen.
Der schwerste meiner Schätze ist mein Arbeitszwang. Er ist die Umkehr der Zwangsarbeit und ein Rettungstausch. In mir sitzt der Gnadenzwinger, ein Verwandter des Hungerengels. Er weiß, wie man alle anderen Schätze dressiert. Er steigt mir ins Hirn, schiebt mich in die Verzauberung des Zwangs, weil ich mich fürchte, frei zu sein.
Aus meinem Zimmer sieht man den Uhrturm auf dem Grazer Schlossberg. An meinem Fenster steht ein großes Reißbrett. Auf meinem Schreibtisch liegt mein letzter Bauplan wie ein abgeschossenes Tischtuch. Er ist staubig wie der Sommer draußen auf den Straßen. Wenn ich ihn betrachte, kann er sich nicht an mich erinnern. Vor meinem Haus geht seit dem Frühjahr täglich ein Mann spazieren mit einem kurzhaarigen weißen Hund und einem extrem dünnen schwarzen Spazierstock, der als Griff nur eine schwache Biegung hat, wie eine vergrößerte Vanillestange. Wenn ich wollte, könnte ich den Mann grüßen und ihm sagen, sein Hund gleicht einem weißen Schwein, auf dem das Heimweh früher durch den Himmel reiten konnte. Im Grunde möchte ich einmal mit dem Hund reden. Es wäre gut, wenn der Hund einmal allein oder mit der Vanillestange unterwegs wäre, ohne den Mann. Vielleicht kommt es eines Tages so. Ich bleibe sowieso hier wohnen, und die Straße bleibt auch, wo sie ist, und der Sommer geht noch lang. Ich habe Zeit und warte.
Am liebsten sitze ich an meinem weißen Resopaltischchen, 1 Meter lang und 1 Meter breit, ein Quadrat. Wenn der Uhrturm halb drei schlägt, fällt die Sonne ins Zimmer. Auf dem Fußboden ist der Schatten meines Tischchens ein Grammophonkoffer. Er spielt mir das Lied vom Seidelbast oder die plissiert getanzte Paloma. Ich hole das Kissen vom Sofa und tanze in meinen plumpen Nachmittag.
Es gibt auch andere Partner.
Ich habe auch schon mit der Teekanne getanzt.
Mit der Zuckerdose.
Mit der Keksschachtel.
Mit dem Telefon.
Mit dem Wecker.
Mit dem Aschenbecher.
Mit dem Hausschlüssel.
Mein kleinster Partner ist ein abgerissener Mantelknopf.
Ist nicht wahr.
Einmal lag unter dem weißen Resopaltischchen eine staubige Rosine. Da hab ich mit ihr getanzt. Dann habe ich sie gegessen. Dann war eine Art Ferne in mir.
Nachwort
Als im Sommer 1944 die Rote Armee schon tief nach Rumänien vorgerückt war, wurde der faschistische Diktator Antonescu verhaftet und hingerichtet. Rumänien kapitulierte und erklärte dem bis dahin verbündeten Nazideutschland völlig überraschend den Krieg. Im Januar 1945 forderte der sowjetische General Vinogradov im Namen Stalins von der rumänischen Regierung alle in Rumänien lebenden Deutschen für den »Wiederaufbau« der im Krieg zerstörten Sowjetunion. Alle Männer und Frauen im Alter zwischen 17 und 45 Jahren wurden zur Zwangsarbeit in sowjetische Arbeitslager deportiert.
Auch meine Mutter war 5 Jahre im Arbeitslager.
Weil es an die faschistische Vergangenheit Rumäniens erinnerte, war das Thema Deportation tabu. Nur in der Familie und mit engen Vertrauten, die selbst deportiert waren, wurde über die Lagerjahre gesprochen. Und auch dann nur in Andeutungen. Diese verstohlenen Gespräche haben meine Kindheit begleitet. Ihre Inhalte habe ich nicht verstanden, die Angst aber gespürt.
2001 begann ich, Gespräche mit ehemals Deportierten aus meinem Dorf aufzuzeichnen. Ich wusste, dass auch Oskar Pastior deportiert war, und erzählte ihm, dass ich darüber schreiben möchte. Er wollte mir helfen mit seinen Erinnerungen. Wir trafen uns regelmäßig, er erzählte, und ich schrieb es auf. Doch bald ergab sich der Wunsch, das Buch gemeinsam zu schreiben.
Als Oskar Pastior 2006 so plötzlich starb, hatte ich vier Hefte voller handschriftlicher Notizen, dazu Textentwürfe für einige Kapitel. Nach seinem Tod war ich wie erstarrt. Die persönliche Nähe aus den Notizen machte den Verlust noch größer.
Erst nach einem Jahr konnte ich mich durchringen, das Wir zu verabschieden und allein einen Roman zu schreiben. Doch ohne Oskar Pastiors Details aus dem Lageralltag hätte ich es nicht gekonnt.
Herta Müller
März 2009
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