Gruppenbild mit Dame: Roman (German Edition)
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Weibliche Trägerin der Handlung in der ersten Abteilung ist eine Frau von achtundvierzig Jahren, Deutsche; sie ist 1,71 groß,
wiegt 68,8 kg (in Hauskleidung), liegt also nur etwa 300–400 Gramm unter dem Idealgewicht; sie hat zwischen Dunkelblau und
Schwarz changierende Augen, leicht ergrautes, sehr dichtes blondes Haar, das lose herabhängt; glatt, helmartig umgibt es ihren
Kopf. Die Frau heißt Leni Pfeiffer, ist eine geborene Gruyten, sie hat zweiunddreißig Jahre lang, mit Unterbrechungen versteht
sich, jenem merkwürdigen Prozeß unterlegen, den man den Arbeitsprozeß nennt: fünf Jahre lang als ungelernte Hilfskraft im
Büro ihres Vaters, siebenundzwanzig Jahre als ungelernte Gärtnereiarbeiterin. Da sie ein erhebliches immobiles Vermögen, ein
solides Mietshaus in der Neustadt, das heute gut und gerne vierhunderttausend Mark wert wäre, unter inflationistischen Umständen
leichtfertig weggegeben hat, ist sie ziemlich mittellos, seitdem sie ihre Arbeit, unbegründet und ohne krank oder alt genug
zu sein, aufgegeben hat. Da sie im Jahre 1941 einmal drei Tage lang mit einem Berufsunteroffizier der Deutschen Wehrmacht
verheiratet war, bezieht sie eine Kriegerwitwenrente, deren Aufbesserung durch eine Sozialrente noch aussteht. Man kann wohl
sagen, daß es Leni im Augenblick – nicht nur in finanzieller Hinsicht – ziemlich dreckig geht, besonders seitdem ihr geliebter
Sohn im Gefängnis sitzt.
Würde Leni ihr Haar kürzer schneiden, es noch ein wenig grauer färben, sie sähe wie eine gut erhaltene Vierzigerin aus; so
wie sie ihr Haar jetzt trägt, ist die Differenz zwischen der jugendlichen Haartracht und ihrem nicht mehr |8| ganz so jugendlichen Gesicht zu groß, und man schätzt sie auf Ende Vierzig; das ist ihr wahres Alter, und doch begibt sie
sich einer Chance, die sie wahrnehmen sollte, sie wirkt wie eine verblühte Blondine, die – was keineswegs zutrifft – einen
losen Lebenswandel führt oder sucht. Leni ist eine der ganz seltenen Frauen ihres Alters, die es sich leisten könnte, einen
Minirock zu tragen: ihre Beine und Schenkel zeigen weder Äderung noch Erschlaffung. Doch Leni hält sich an eine Rocklänge,
die ungefähr im Jahre 1942 Mode war, das liegt zum größten Teil daran, daß sie immer noch ihre alten Röcke trägt, Jacken und
Blusen bevorzugt, weil ihr angesichts ihrer Brust (mit einer gewissen Berechtigung) Pullover zu aufdringlich erscheinen. Was
ihre Mäntel und Schuhe betrifft, so lebt sie immer noch von den sehr guten und sehr gut erhaltenen Beständen, die sie in ihrer
Jugend, als ihre Eltern vorübergehend wohlhabend waren, erwerben konnte. Kräftig genoppter Tweed, grau-rosa, grün-blau, schwarz-weiß,
himmelblau (uni), und falls sie eine Kopfbedeckung für angebracht hält, bedient sie sich eines Kopftuchs; ihre Schuhe sind
solche, wie man sie – wenn man entsprechend bei Kasse war – in den Jahren 1935–39 als »Unverwüstliche« kaufen konnte.
Da Leni im Augenblick ohne ständigen männlichen Schutz oder Rat in der Welt steht, unterliegt sie, was ihre Haartracht betrifft,
einer Dauertäuschung; an der ist ihr Spiegel schuld, ein alter Spiegel aus dem Jahr 1894, der zu Lenis Unglück zwei Weltkriege
überdauert hat. Leni betritt nie einen Frisiersalon, nie einen reich bespiegelten Supermarkt, sie tätigt ihre Einkäufe in
einem Einzelhandelsgeschäft, das soeben davorsteht, dem Strukturwandel zu erliegen; so ist sie einzig und allein auf diesen
Spiegel angewiesen, von dem schon ihre Großmutter Gerta Barkel geb. Holm sagte, er schmeichle nun doch zu arg; Leni benutzt
den Spiegel sehr oft. Lenis Haartracht ist einer |9| der Anlässe für Lenis Kummer, und Leni ahnt den Zusammenhang nicht. Was sie mit voller Wucht zu spüren bekommt, ist die sich
stetig steigernde Abfälligkeit ihrer Umwelt, im Haus und in der Nachbarschaft. Leni hat in den vergangenen Monaten viel Männerbesuch
gehabt: Abgesandte von Kreditinstituten, die ihr, da sie auf Briefe nicht reagierte, letzte und allerletzte Mahnungen überbrachten;
Gerichtsvollzieher, Anwaltsboten; schließlich die Sendboten von Gerichtsvollziehern, die Gepfändetes abholten; und da Leni
außerdem drei möblierte Zimmer, die gelegentlich die Mieter wechseln, vermietet, kamen natürlich auch jüngere männliche Zimmersuchende.
Manche dieser männlichen Besucher sind zudringlich geworden – ohne Erfolg selbstverständlich; jeder weiß, wie gerade die erfolglos
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