Atemschaukel
Brotdieb beinah totgeschlagen hätte. Der Advokat Paul Gast hatte bis dahin von seinem Bett oben zugeschaut. Er sprang mir auf den Rücken, riss mir den Schuh weg und warf ihn an die Wand. Karli Halmen lag angepisst neben dem Eimer und kotzte Brotschleim.
Mir hatte die Mordlust den Verstand geschluckt. Nicht nur mir, wir waren eine Meute. Wir schleppten den Karli in der blutigen, verpissten Unterwäsche neben die Baracke hinaus in die Nacht. Es war Februar. Wir stellten ihn an die Barackenwand, er torkelte und fiel um. Ohne Absprache öffneten der Trommler und ich die Hosen, dann auch der Albert Gion und alle anderen. Und weil wir schon mal vor dem Schlafengehen waren, pissten wir Karli Halmen nacheinander ins Gesicht. Auch der Advokat Paul Gast machte mit. Zwei Wachhunde bellten, hinter ihnen kam ein Wachmann angerannt. Die Hunde rochen das Blut und knurrten, der Wachmann fluchte. Der Advokat und der Wachmann trugen Karli zur Krankenbaracke. Wir schauten ihnen hinterher und rieben uns mit Schnee das Blut von den Händen.
Alle gingen stumm in die Baracke und krochen in die Betten. Ich hatte einen Blutfleck am Handgelenk, drehte ihn zum Licht und dachte, wie hellrot Karlis Blut ist, wie Siegellack, gottseidank aus der Ader, nicht aus der Vene. In der Baracke war es mucksstill, und ich hörte in der Kuckucksuhr den Gummiwurm schnarren, nah wie aus meinem eigenen Kopf. Ich dachte nicht mehr an Karli Halmen, auch nicht an Fenjas unendlich weißes Leintuch, nicht einmal an das unerreichbare Brot. Ich fiel in einen tiefen ruhigen Schlaf.
Am nächsten Morgen war das Bett von Karli Halmen leer. Wir gingen wie immer zur Kantine. Auch der Schnee warleer und nicht mehr rot, es hatte frisch geschneit. Karli Halmen lag zwei Tage in der Krankenbaracke. Danach saß er mit eitrigen Wunden, zugeschwollenen Augen und blauen Lippen wieder zwischen uns in der Kantine. Die Sache mit dem Brot hatte sich erledigt, alle verhielten sich wie immer.
Wir haben Karli Halmen den Diebstahl nicht vorgehalten. Und er hat uns die Strafe nie vorgeworfen. Er wusste, er hat sie verdient. Das Brotgericht verhandelt nicht, es bestraft. Die Nullgrenze kennt keine Paragraphen, sie braucht kein Gesetz. Sie ist eines, weil der Hungerengel auch ein Dieb ist, der das Hirn stiehlt. Die Brotgerechtigkeit hat kein Vor- und kein Nachspiel, sie ist nur Gegenwart. Total durchsichtig oder total geheimnisvoll. Auf jeden Fall ist die Brotgerechtigkeit anders gewalttätig als hungerlose Gewalt. Dem Brotgericht kann man nicht kommen mit der gängigen Moral.
Die Zeit des Brotgerichts war im Februar. Im April saß Karli Halmen bei Oswald Enyeter in der Rasierstube auf dem Stuhl, seine Wunden waren heil, sein Bart gewachsen, wie zertrampeltes Gras. Und ich war nach ihm dran und wartete hinter ihm im Spiegel, wie Tur Prikulitsch sonst hinter mir stand. Der Rasierer legte seine pelzigen Hände auf Karlis Schultern und fragte: Seit wann fehlen uns vorn die zwei Zähne. Weder zu mir noch zum Rasierer, nur zu den pelzigen Händen sagte Karli Halmen: Seit dem Kriminalfall mit dem Brot.
Als sein Bart abrasiert war, setzte ich mich auf den Stuhl. Es war das einzige Mal, dass Oswald Enyeter beim Rasieren eine Art Serenade pfiff und aus dem Schaum ein Fleckchen Blut quoll. Nicht hellrot wie Siegellack, sondern dunkelrot, wie eine Himbeere im Schnee.
Mondsichelmadonna
Wenn der Hunger am größten ist, reden wir von der Kindheit und vom Essen. Die Frauen reden ausführlicher vom Essen als die Männer. Am ausführlichsten reden die Frauen aus den Dörfern. Bei ihnen hat jedes Kochrezept mindestens drei Akte, wie ein Theaterstück. Durch die verschiedenen Ansichten über die Zutaten wächst die Spannung. Sie steigert sich rasant, wenn in die Füllung aus Speck, Brot und Ei keinesfalls nur eine halbe, sondern eine ganze Zwiebel, und nicht nur vier, sondern sechs Knoblauchzehen gehören und wenn die Zwiebeln und der Knoblauch nicht nur gehackt, sondern gerieben werden. Und wenn Semmelbrösel besser sind als Brot und Kümmel besser ist als Pfeffer und Majoran sowieso das Beste, sogar besser als Estragon, der doch zu Fisch passt, nicht zu Ente. Wenn die Füllung zwischen Haut und Fleisch geschoben werden muss, damit das Hautfett beim Braten einsickern kann, oder unbedingt in die Bauchhöhle geschoben werden muss, damit sie beim Braten nicht das Hautfett saufen kann, hat das Theaterstück seinen Höhepunkt erreicht. Manchmal behält die evangelisch gefüllte Ente recht, manchmal die
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