Atemschaukel
wir mit unserem Brot auch ihren Hunger mit. Über den Hunger der Fliegen habe ich nie nachgedacht, nicht einmal über die inszenierte Hygiene mit den weißen Leintüchern.
Fenjas Gerechtigkeit machte mich regelrecht hörig, diese Paarung von Schiefmäuligkeit und Präzision auf der Waage. Das Abstoßende an Fenja war eine Perfektion. Fenja war weder gut noch böse, sie war keine Person, sondern ein Gesetz in Häkeljacken. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, Fenja mit anderen Frauen zu vergleichen, weil keine andere so gequält diszipliniert und makellos hässlich war. Sie war wie das begehrte, schrecklich nasse, klebrige, schandbar nahrhafte, rationierte Kastenbrot.
Die Brotration bekamen wir morgens für den ganzen Tag. Wie die meisten gehörte ich zu den 800-Gramm-Kandidaten, es war die Normalration. 600 Gramm gab es für die Leichtarbeit auf dem Lagergelände: Latrinenkot in Zisternen füllen, Schneekehren, Herbst- und Frühjahrsputz, Randsteine vom Korso weißen. Und 1000 Gramm bekamen wenige, es war die Ausnahme für Schwerstarbeit.
Schon 600 Gramm klingt nach viel. Aber das Brot warso schwer, dass selbst 800 Gramm nur eine daumendicke Scheibe ergaben, wenn sie aus der Mitte des Brotes geschnitten wurde. Wenn man Glück hatte und das Brotende mit der eckigen trockenen Kruste bekam, war die Scheibe zwei Daumen dick.
Die erste Entscheidung des Tages war: Bin ich so standhaft, heute beim Frühstück nicht die ganze Ration zur Krautsuppe zu essen. Kann ich mir mitten im Hunger ein Stückchen aufheben für den Abend. Mittagessen gab es keines, man war in der Arbeit und hatte nichts zu entscheiden. Abends nach der Arbeit kam, falls ich beim Frühstück standhaft geblieben war, die zweite Entscheidung: Bin ich so standhaft, nur unters Kissen zu greifen, ob mein gespartes Brot da ist. Kann ich warten, bis der Abendappell vorbei ist und es erst in der Kantine essen. Das konnte noch zwei Stunden dauern. Wenn der Appell nicht aufhörte, noch länger.
Wenn ich am Morgen nicht standhaft geblieben war, hatte ich abends gar keinen Brotrest und nicht einmal etwas zu entscheiden. Ich nahm den Löffel nur halbvoll, schlürfte tief. Ich hatte gelernt, langsam zu essen, nach jedem Löffel Suppe Speichel zu schlucken. Der Hungerengel sagte: Speichel macht die Suppe länger, und früh Schlafengehen macht den Hunger kürzer.
Ich ging früh schlafen, wachte aber ständig auf, weil das Gaumenzäpfchen anschwoll und pulsierte. Ob ich die Augen schloss oder offenhielt, mich herumwälzte oder ins Dienstlicht stierte, ob jemand schnarchte, als ob er am Ertrinken wäre, oder der Gummiwurm aus der Kuckucksuhr schnarrte – die Nacht war unermesslich groß, und in ihr waren Fenjas Leintücher unendlich weiß, und darunter lag das viele unerreichbare Brot.
Morgens nach der Hymne eilte der Hunger mit mir zum Frühstück, zu Fenja. Zu dieser übermenschlichen ersten Entscheidung: bin ich standhaft heute, kann ich ein Stückchen Brot für den Abend … und so weiter.
Wie weit.
Alle Tage hat mir der Hungerengel das Hirn gefressen. Und eines Tages hat er mir die Hand gehoben. Und mit dieser Hand hätte ich den Karli Halmen fast erschlagen – es ging um den Kriminalfall mit dem Brot.
Karli Halmen hatte einen ganzen Tag frei und schon zum Frühstück sein ganzes Brot gegessen. Alle waren in der Arbeit. Karli Halmen hatte die Baracke bis am Abend für sich allein. Am Abend war das gesparte Brot vom Albert Gion weg. Der Albert Gion war fünf Tage nacheinander standhaft gewesen, er hatte sich fünf Stückchen Brot gespart, so viel wie eine Tagesration. Er war den ganzen Tag mit uns in der Schicht gewesen und hatte wie alle, die gespartes Brot hatten, den ganzen Tag an die Abendsuppe mit Brot gedacht. Und aus der Schicht zurück, hat er, wie alle, zuerst unter sein Kissen geschaut. Das Brot war nicht mehr da.
Das Brot war nicht da, und Karli Halmen saß in der Unterwäsche auf seinem Bett. Albert Gion brachte sich vor ihm in Stellung und gab ihm, ohne ein Wort, drei Fäuste auf den Mund. Karli Halmen spuckte, ohne ein Wort, zwei Zähne aufs Bett. Der Akkordeonspieler führte Karli am Nacken zum Wassereimer und drückte seinen Kopf unters Wasser. Es blubberte aus Mund und Nase, dann röchelte es, dann wurde es still. Der Trommler zog den Kopf aus dem Wasser und würgte ihm den Hals, bis Karlis Mund so hässlich zuckte wie Fenjas Mund. Ich stieß den Trommler weg, zog aber meinen Holzschuh aus. Und es hob mir derart dieHand, dass ich den
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