Atemschaukel
Handschrift gibt mir einen Stich, das praktische Denken der Mutter, das Platzsparen durch das Kürzel GEB. für geboren. Mein Puls klopft in der Karte, nicht in der Hand, in der ich sie halte. Tur legt mir die Postliste und einen Bleistift auf den Tisch, ich soll meinen Namen suchen und unterschreiben. Er geht zum Ofen, spreizt die Hände und horcht, wie das Teewasser summt und die Hasen im Feuer pfeifen. Erst verschwimmen mir vor den Augen die Rubriken, dann die Buchstaben. Dann knie ich am Tischrand, lasse die Hände auf den Tisch fallen und das Gesicht in die Hände und schluchze.
Willst du Tee, fragt Tur. Willst du Schnaps. Ich habe geglaubt, du freust dich.
Ja, sage ich, ich freue mich, weil wir zu Hause noch die alte Nähmaschine haben.
Ich trinke mit Tur Prikulitsch ein Glas Schnaps und noch eins. Für Hautundknochenleute ist das viel zu viel. Der Schnaps brennt im Magen und die Tränen im Gesicht. Ich habe ewig nicht geweint, meinem Heimweh trockene Augen beigebracht. Ich habe mein Heimweh sogar schon herrenlos gemacht. Tur drückt mir den Bleistift in die Hand und zeigt auf die richtige Rubrik. Ich schreibe zittrig: Leopold. Ich brauche deinen Namen ganz, sagt Tur. Schreib du ihn ganz, sag ich, ich kann nicht.
Dann gehe ich mit dem angenähten Kind in der Pufoaika-Jacke hinaus in den Schnee. Von draußen sehe ich im Fensterder Dienststube das Fensterkissen gegen den Luftzug, von dem mir die Trudi Pelikan erzählt hat. Es ist akkurat genäht und ausgestopft. Die Haare der Corina Marcu haben dafür nicht gereicht, es sind bestimmt noch andere drin. Aus den Glühbirnen fließen weiße Trichter, der hintere Wachturm pendelt im Himmel. Im ganzen Schneehof sind die weißen Bohnen vom Zither-Lommer verstreut. Der Schnee rutscht mit der Lagermauer immer weiter weg. Aber auf dem Lagerkorso, wo ich gehe, hebt er sich an meinen Hals. Der Wind hat eine scharfe Sense. Ich habe keine Füße, ich gehe auf den Wangen und habe bald keine mehr. Ich habe nur das angenähte Kind, es ist mein Ersatzbruder. Meine Eltern haben sich ein Kind gemacht, weil sie mit mir nicht mehr rechnen. So wie die Mutter geboren mit GEB. abkürzt, würde sie auch gestorben mit GEST. abkürzen. Sie hat es schon getan. Schämt sich die Mutter nicht mit ihrer akkuraten Steppnaht aus weißem Zwirn, dass ich unter der Zeile lesen muss:
Meinetwegen kannst du sterben, wo du bist, zu Hause würde es Platz sparen.
Im Weißen unter der Zeile
Die Rot-Kreuz-Postkarte meiner Mutter kam im November ins Lager. Sie war sieben Monate unterwegs. Zu Hause abgeschickt wurde sie im April. Da war das angenähte Kind schon ein Dreivierteljahr auf der Welt.
Die Karte mit dem Ersatzbruder habe ich zu dem weißen Taschentuch ganz unten in den Koffer gelegt. Auf der Karte stand nur eine Zeile, und darin kam ich mit keinem Wort vor. Nicht einmal im Weißen unter der Zeile.
Im Russendorf hatte ich um Essen betteln gelernt. Bei der Mutter um Erwähnung betteln wollte ich nicht. In den zwei verbliebenen Jahren habe ich mich gezwungen, nicht auf die Karte zu antworten. Betteln gelernt hatte ich in den zwei vergangenen Jahren vom Hungerengel. In den zwei verbliebenen lernte ich vom Hungerengel den rauhen Stolz. Er war so roh wie das Standhaftbleiben vor dem Brot. Er plagte mich grausam. Jeden Tag zeigte der Hungerengel mir die Mutter, wie sie an meinem Leben vorbei ihr Ersatzkind füttert. Aufgeräumt und satt fuhr sie mit ihrem weißen Kinderwagen in meinem Kopf hin und her. Und ich schaute ihr von überall zu, wo ich nicht vorkam, nicht einmal im Weißen unter der Zeile.
Der Minkowski-Draht
Jeder hier hat seine Gegenwart. Jeder hier berührt mit seinen Gummigaloschen oder Holzschuhen den Boden, und sei es zwölf Meter unterhalb der Erde im Keller, und sei es auf dem Schweigebrett. Wenn der Albert Gion und ich nicht gerade arbeiten, sitzen wir dort auf der Bank aus zwei Steinen und einem Brett. Im Drahtgitter brennt die Glühbirne, im offenen Eisenkorb ein Koksfeuer. Wir ruhen uns aus und schweigen. Oft frage ich mich, kann ich noch rechnen. Wenn wir jetzt im vierten Jahr und im dritten Frieden sind, muss es hier im Keller auch den ersten und den zweiten Frieden gegeben haben, so wie es einen Vorfrieden gegeben haben muss, ohne mich. Und so viele Tag- und Nachtschichten wie Erdschichten muss es im Keller hier geben. Und meine Schichten mit dem Albert Gion, ich hätte sie zählen sollen, aber kann ich noch rechnen.
Kann ich noch lesen. Zu Weihnachten hatte ich von
Weitere Kostenlose Bücher