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Atemschaukel

Titel: Atemschaukel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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Haare halten den Luftzug ab. Dass die Feldscherin sich die Hände mit Seife wusch und sagte: Ich habe Angst, dass man sich langweilt, wenn man tot ist. Dass Bea Zakel darauf mit einer ungewöhnlich hohen Stimme sagte: Mit Recht. Dass Bea Zakel dann zwei leere Blätter aus dem Krankenregister riss und das Holzkistchen abdeckte. Dass sie mit dem Kistchen unterm Arm aussah, als hätte sie im Laden des Russendorfs eine verderbliche Ware gekauft. Dass sie nicht auf die Kleider wartete, sondern mit dem Kistchen verschwand, bevor die Tote fertig ausgezogen war. Dass Kobelian zu seinem Auto ging. Dass es dauerte, bis die Tote nackt war, weil die Trudi den guten Pufoaika-Anzug nicht zerschneiden wollte. Dass bei dem Gezerre eine Katzenbrosche aus der Jackentascheder Toten neben den Eimer auf den Boden fiel. Dass die Trudi Pelikan sich nach der Brosche bückte und im Eimer auf einer der glänzenden Konservendosen das Gedruckte buchstabierte: CORNED BEEF. Dass sie ihren Augen nicht traute. Dass die Feldscherin, während sie noch buchstabierte, die Brosche aufhob. Dass die ganze Zeit das Auto draußen brummte und nicht wegfuhr. Dass die Feldscherin mit der Katzenbrosche in der Hand hinausging und mit leerer Hand wiederkam und sagte: Kobelian sitzt am Steuer, sagt immer Großer Gott und heult.
    Die Langeweile ist die Geduld der Angst. Sie will ja nicht übertreiben. Nur manchmal, und darum geht es ihr besonders, will sie wissen, wie es mit mir steht.
    Ich könnte ein Stück gespartes Brot aus dem Kissen essen, mit bisschen Zucker oder Salz. Oder meine nassen Fußlappen auf der Stuhllehne neben dem Ofen trocknen. Das Holztischchen wirft einen längeren Schatten, die Sonne hat sich gedreht. Im Frühjahr, im nächsten Frühjahr organisiere ich mir vielleicht zwei Gummistücke vom Förderband aus der Fabrik oder von einem Autoreifen aus der Garage. Dann bringe ich sie zum Schuster.
    Als erste hat Bea Zakel im Lager Ballettki getragen, schon im vorigen Sommer. Ich kam zu ihr in die Kleiderkammer, ich brauchte neue Holzschuhe. Ich wühlte herum in dem Schuhhaufen, und Bea Zakel sagte: Ich habe nur zu große oder zu kleine, Fingerhüte oder Schiffe, die mittleren sind alle weg. Ich probierte viele, um länger zu bleiben. Zuerst entschied ich mich für kleine, dann fragte ich, wann wieder mittlere kommen. Dann behielt ich zwei große. Bea Zakel sagte: Zieh sie gleich an, lass die alten hier. Schau, was ich hab, Ballettki.
    Ich fragte: Woher.
    Sie sagte: Vom Schuster. Schau, die biegen sich wie barfuß.
    Was kosten sie, fragte ich.
    Sie sagte: Das musst du Tur fragen.
    Die Gummistücke gibt Kobelian mir vielleicht umsonst. Sie müssten mindestens so groß wie zwei Schaufelblätter sein. Für den Schuster brauche ich Geld. Ich müsste Kohle verkaufen, solang es noch kalt ist. Im Sommer, im nächsten Sommer zieht die Langeweile vielleicht die Fußlappen aus und trägt die Ballettki. Dann läuft sie wie barfuß.

Ersatzbruder
    Anfang November ruft Tur Prikulitsch mich in seine Dienststube.
    Ich habe Post von zu Hause.
    Vor Freude tickt mein Gaumen, ich krieg den Mund nicht zu. Tur sucht im halboffenen Schrank in einer Schachtel. An der geschlossenen Schrankhälfte klebt ein Bild von Stalin, hohe graue Backenknochen wie zwei Abraumhalden, die Nase imposant wie eine Eisenbrücke, sein Schnauzbart wie eine Schwalbe. Neben dem Tisch dubbert der Kohleofen, darauf summt ein offener Blechtopf mit Schwarztee. Neben dem Ofen steht der Eimer mit Anthrazitkohle. Tur sagt: Leg mal bisschen Kohle nach, bis ich deine Post gefunden habe.
    Ich suche im Eimer drei passende Brocken, die Flamme springt wie ein weißer Hase durch einen gelben Hasen. Dann springt der gelbe durch den weißen, die Hasen zerreißen einander und pfeifen zweistimmig Hasoweh. Das Feuer bläst mir Hitze ins Gesicht und das Warten Angst. Ich schließe das Ofentürchen und Tur schließt den Schrank. Er überreicht mir eine Rot-Kreuz-Postkarte.
    An der Karte ist mit weißem Zwirn ein Foto angenäht, akkurat gesteppt mit der Nähmaschine. Auf dem Foto ist ein Kind. Tur schaut mir ins Gesicht, und ich schau auf die Karte, und das angenähte Kind auf der Karte schaut mir ins Gesicht, und von der Schranktür schaut uns allen Stalin ins Gesicht.
    Unter dem Foto steht:
    Robert, geb. am 17. April 1947.
    Es ist die Handschrift meiner Mutter. Das Kind auf dem Foto hat eine gehäkelte Haube und eine Schleife unterm Kinn. Ich lese noch einmal: Robert, geb. am 17. April 1947. Mehr steht nicht da. Die

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