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Atemschaukel

Titel: Atemschaukel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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Girlanden aus frischen und abflauenden Läusebissen. Auch die stumme Langeweile der Planton-Kati gibt es. Die Planton-Kati singt nie. Ich habe sie gefragt: Kati, kannst du nicht singen. Sie hat gesagt: Ich hab mich schon gekämmt. Siehst du, ohne Haare kratzt der Kamm.
    Der Lagerhof ist ein leeres Dorf in der Sonne, die Zacken der Wolken sind Feuer. Meine Fini-Tante zeigte auf der Bergwiese in die Abendsonne. Ein Windschub hatte ihre Haare hochgehoben wie ein Vogelnest und ihren Hinterkopf mit einem weißen Scheitel in der Mitte durchgeschnitten. Und sie sagte: Das Christkind backt Kuchen. Ich fragte: Schon jetzt. Schon jetzt, sagte sie.
    Es gibt die Langeweile der vergeudeten Gespräche, um nicht zu sagen Gelegenheiten. Für einen schlichten Wunsch verbraucht man viele Wörter und vielleicht bleibt keines hängen. Oft meide ich Gespräche, und wenn ich sie suche, habe ich Angst vor ihnen, am meisten vor denen mit Bea Zakel. Es kann sein, dass ich von Bea Zakel gar nichts will, wenn ich mit ihr rede. Dass ich in ihre länglichen Augen tauche, weil ich um Gnade betteln will bei Tur. Im Grunde rede ich mit allen mehr, als ich will, um weniger allein zusein. Als könnte man im Lager überhaupt allein sein. Kann man nicht, nicht einmal wenn das Lager ein leeres Dorf in der Sonne ist.
    Es ist immer dasselbe, ich lege mich hin, denn so ruhig wie jetzt ist es später nicht mehr, weil die anderen aus der Arbeit kommen. Nachtschichtler schlafen nicht lange am Stück, nach vier Stunden Pflichtschlaf bin ich wach. Ich könnte mir ausrechnen, wie lang es noch dauert, bis im Lager wieder ein langweiliger Frühling ist mit einem nächsten sinnlosen Frieden und dem Gerücht, dass wir bald nach Hause dürfen. Und ich liege in diesem neuen Frieden im neuen Gras und habe mir die ganze Erde auf den Rücken geschnallt. Doch wir werden von hier in ein anderes Lager verlegt, noch weiter ostwärts, in ein Holzfällerlager. Und ich packe meine Kellersachen in den Grammophonkoffer, packe und packe und werde nicht fertig. Die anderen warten schon. Die Lokomotive tutet, ich spring im letzten Moment aufs Trittbrett. Wir fahren von einem Tannenwald in den nächsten. Die Tannen springen zur Seite und weichen den Schienen aus und hüpfen hinterm Zug wieder auf ihren Platz zurück. Und wir kommen an und steigen aus, zuerst der Kommandant Schischtwanjonow. Ich lasse mir Zeit und hoffe, niemand merkt, dass ich im Grammophonkoffer weder eine Säge habe noch eine Axt, nur Kellersachen und mein weißes Taschentuch. Der Kommandant hat sich nach dem Aussteigen gleich umgezogen, an seiner Uniform sind Hornknöpfe und Schulterklappen mit Eichenblättern, obwohl wir im Tannenwald sind. Er wird ungeduldig, dawaj, mach schon, sagte er zu mir, Sägen und Äxte haben wir mehr als genug. Ich steige aus, und er gibt mir einen braunen Papiersack. Schon wieder Zement, denke ich. Aber aneiner Ecke ist der Sack zerrissen, und es rinnt weißes Mehl heraus. Ich bedanke mich für das Geschenk, nehme den Sack unter den linken Arm und mit dem rechten salutiere ich. Schischtwanjonow sagt: Beine lockern, in den Bergen hier muss man auch sprengen. Jetzt begreife ich, das weiße Mehl ist Dynamit.
    Statt auf solche Gedanken zu kommen, könnte ich etwas lesen. Aber den schrecklichen Zarathustra, den dicken Faust und den dünngedruckten Weinheber habe ich für ein bisschen Hungerstille längst als Zigarettenpapier verkauft. An meinem vorigen freien Mittwoch habe ich mir vorgestellt, dass wir gar nicht in den Zug steigen. Dass die Baracke ohne Räder mit uns weiter in den Osten fährt und sich beim Fahren dehnt wie eine Ziehharmonika. Dass es gar nicht rüttelt, dass draußen Akazien vorbeilaufen und mit den Ästen am Fenster kratzen und ich neben Kobelian sitze und frage: Wieso fahren wir, wir haben doch gar keine Räder. Und dass Kobelian sagt: Wir fahren doch auf einem Kugellager.
    Ich bin müde und habe keine Lust, mich schrecklich nach etwas zu sehnen. Es gibt allerhand Langeweilen, schnell vorauseilende und spät nachhinkende. Wenn ich sie gut behandle, tun sie mir nichts und sind jeden Tag mein Eigentum. Das ganze Jahr gibt es überm Russendorf die Langeweile des dünnen Mondes, sein Hals simuliert eine Gurkenblüte oder eine Trompete mit grauen Fingerklappen. Ein paar Tage später wächst ein halber Mond wie eine aufgehängte Schiebermütze. Und in den Tagen darauf schaut vom Himmel herunter die Langeweile einer ganzen Mondkugel, voll bis zum Überlaufen. Jeden Tag gibt es

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