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Atemschaukel

Titel: Atemschaukel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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hingen beleuchtete Vorhänge. Die verschiedensten Spitzenrosetten und Zwirnlabyrinthehatten den gleichen schwarzen Widerschein vom nackten Baumgeäst. Und den Leuten in den Zimmern entging, dass ihre Vorhänge lebten und ihren weißen Zwirn in einer ständig anderen Mischung mit schwarzem Holz kombinierten, weil der Wind schlug. Erst an den Straßenenden war der Himmel frei, ich sah den Abendstern schmelzen und hängte mein Gesicht dran. Und dann war Zeit genug vergangen, und ich konnte sicher sein, dass alle schon gegessen haben, wenn ich nach Hause komme.
    Ich hatte es verlernt, mit Messer und Gabel zu essen. Mir zuckten nicht nur die Hände, auch das Schlucken im Hals. Ich wusste, wie man hungert und das Essen streckt oder verschlingt, wenn man es endlich hat. Wie lang man kaut und wann man schluckt, um manierlich zu essen, wusste ich nicht mehr. Der Vater saß mir gegenüber, und die Tischplatte schien mir so groß wie die halbe Welt. Er schaute mir mit halbgeschlossenen Augen zu und verbarg sein Mitleid. Im Blinzeln leuchtete dann sein ganzes Entsetzen wie die rosa Quarzhaut an seiner Innenlippe. Der Großmutter gelang es am besten, mich ohne Umstände zu schonen. Sie kochte die dicken Suppen wahrscheinlich, damit ich mich mit Messer und Gabel nicht quäle.
    An dem Augusttag, als der Brief kam, gab es grüne Bohnensuppe mit Rippchenfleisch. Nach dem Brief war mir der Hunger vergangen. Ich schnitt mir eine dicke Scheibe Brot, aß zuerst die Krümel vom Tisch, dann begann ich zu löffeln. Mein Ersatzbruder kniete auf dem Boden, stülpte seinem Stoffhund das Teesieb als Mütze auf den Kopf und setzte ihn rittlings auf die Schubladenkante des Verandaschränkchens. Alles, was Robert tat, war mir unheimlich. Er war ein zusammengebautes Kind – seine Augen von derMutter, alt und rund und abendblau. Die Augen werden so bleiben, dachte ich. Seine Oberlippe von der Großmutter wie ein Spitzkragen unter der Nase. Die Oberlippe wird so bleiben. Seine gewölbten Fingernägel waren vom Großvater, sie werden so bleiben. Seine Ohren von mir und meinem Onkel Edwin, die eingedrehten Falten, die sich an den Ohrläppchen oben glattbiegen. Sechs gleiche Ohren aus dreierlei Haut, denn die Ohren werden so bleiben. Seine Nase wird nicht so bleiben, dachte ich, Nasen ändern sich, wenn sie wachsen. Später ist sie vielleicht vom Vater, mit der knochigen Kante an der Nasenwurzel. Wenn nicht, hat Robert gar nichts von ihm. Dann durfte der Vater zu dem Ersatzkind nichts dazutun.
    Robert kam zu mir an den Tisch, hielt seinen Mopi mit dem Teesieb in der linken Hand und griff mir mit der rechten ans Knie, als wäre mein Knie eine Stuhlecke. Seit der Umarmung bei der Heimkehr, seit acht Monaten, hatte mich in diesem Haus niemand mehr berührt. Für sie war ich unnahbar, für Robert ein neuer Gegenstand im Haus. Er fasste mich an wie die Möbel, um sich festzuhalten oder mir etwas auf den Schoß zu legen. Diesmal stopfte er mir den Mopi in die Rocktasche, als wäre ich seine Schublade. Und ich hielt still, als wär ich eine. Ich hätte ihn wegstoßen wollen, der Nichtrührer hinderte mich. Der Vater nahm mir den Stoffhund und das Teesieb aus der Tasche und sagte:
    Nimm deine Schätze.
    Er ging mit Robert die Treppen hinunter in den Hof. Die Mutter setzte sich vis-à-vis von mir an den Tisch und schaute der Fliege auf dem Brotmesser zu. Ich rührte in meiner Bohnensuppe und sah mich bei Oswald Enyeter inder Rasierstube vor dem Spiegel sitzen. Tur Prikulitsch kam zur Tür herein. Ich hörte ihn sagen:
    Kleine Schätze sind die, auf denen steht, da bin ich.
    Größere Schätze sind die, auf denen steht, weißt du noch.
    Die schönsten Schätze aber sind die, auf denen stehen wird, da war ich.
    DA WAR ICH klang aus seinem Mund wie Towarischtsch. Da war ich schon vier Tage nicht rasiert. Im Spiegel des Verandafensters fuhr die schwarzbehaarte Hand von Oswald Enyeter mit dem Messer durch weißen Schaum. Und hinterm Messer lief mir ein Hautstreifen wie ein Gummiband vom Mund zum Ohr. Oder war es damals schon das lange Schlitzmaul, das wir vom Hunger hatten. Der Vater konnte so ahnungslos von den Schätzen reden wie Tur Prikulitsch, weil sie beide noch nie ein Hungermaul hatten. Und die Fliege auf dem Brotmesser kannte die Veranda so gut wie ich die Rasierstube. Sie flog vom Brotmesser auf den Schrank, vom Schrank auf meine Brotscheibe, dann auf den Tellerrand und von dort zurück aufs Brotmesser. Jedesmal hob sie steil ab, kreiste mit Gesang und

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