Atlantis
herablassen kann, ohne dass er allzu viele Falten schlägt oder zu sehr herumrutscht.
Er steht auf, staubt sich die Hände ab, wendet sich dann dem Aktenkoffer zu und macht ihn auf. Er nimmt das Glitzerbandknäuel heraus und legt es aufs Diktaphon, das auf dem Schreibtisch steht.
»Nicht schlecht«, sagt er und denkt erneut, dass Sharon richtig klasse sein kann, wenn sie es darauf anlegt … und das tut sie oft. Er verriegelt den Aktenkoffer wieder und zieht sich dann sorgfältig und methodisch aus, in der umgekehrten Reihenfolge wie um halb sieben; er lässt den Film rückwärtslaufen. Er zieht sich ganz aus, sogar die Unterhose und die schwarzen Kniestrümpfe. Als er nackt ist, hängt er seinen Mantel, die Anzugjacke und das Hemd sorgfältig in den Schrank, wo nur ein anderes Kleidungsstück hängt - eine schwere rote Jacke, nicht ganz dick genug, um als Parka bezeichnet zu werden. Darunter ist ein schachtelartiges Ding, ein bisschen zu klobig, um als Aktenkoffer bezeichnet zu werden. Willie stellt seinen Mark-Cross-Koffer daneben und klemmt seine Hose dann in den Hosenbügler, wobei er sorgsam auf die Bügelfalte achtet. Die Krawatte drapiert er über den an die Rückseite der Schranktür geschraubten
Halter, wo sie ganz allein hängt, wie eine lange blaue Zunge.
Barfuß und nackt tappt er zu einem der Aktenschränke hinüber. Darauf steht ein Aschenbecher mit einem reliefartig hervorgehobenen, stinksauer dreinschauenden Adler und der ersten Zeile des Marschlieds der Marines, IF I DIE IN A COMBAT ZONE. In dem Aschenbecher liegen zwei Hundemarken an einer Kette. Willie streift sich die Kette über den Kopf und zieht dann die unterste Schublade des Aktenschranks heraus. Darin liegt Unterwäsche, zuoberst eine ordentlich zusammengefaltete khakibraune Boxershorts. Die zieht er an. Als Nächstes kommen weiße Tennissocken, gefolgt von einem weißen Baumwollunterhemd - runder Halsausschnitt, mit halbem Arm. Die Umrisse seiner Hundemarken zeichnen sich darunter ab, ebenso sein Bizeps und sein Deltamuskel. Sie sind nicht mehr so gut wie damals in A Shau und Dong Ha, aber auch nicht gerade schlecht für jemanden, der auf die vierzig zugeht.
Jetzt, bevor er sich fertig angezogen hat, ist es Zeit für die Buße.
Er geht zu einem anderen Aktenschrank und zieht die zweite Schublade heraus. Rasch geht er die gebundenen Hauptbücher darin durch, zuerst die für Ende 1982, dann die von diesem Jahr: Jan-April, Mai/Juni, Juli, August (im Sommer verspürt er immer den Drang, mehr zu schreiben), September/Oktober, und zuletzt den aktuellen Band: November /Dezember. Er setzt sich an seinen Schreibtisch, schlägt das Hauptbuch auf und blättert rasch die eng beschriebenen Seiten durch. Es gibt kleine Abweichungen im Text, aber im Wesentlichen ist es immer derselbe: Es tut mir von Herzen leid.
An diesem Vormittag schreibt er nur etwa zehn Minuten, lässt den Stift geschäftig übers Papier kratzen und bleibt beim Kern der Sache: Es tut mir von Herzen leid. Er hat das jetzt seiner Schätzung nach über zwei Millionen Mal geschrieben … und doch gerade erst angefangen. Mit einer Beichte ginge es schneller, aber er ist bereit, den langen Weg zu gehen.
Er hört auf - nein, er hört niemals auf, er macht nur für heute Schluss - und steckt das aktuelle Hauptbuch wieder zwischen die bereits vollgeschriebenen und diejenigen, die noch vollgeschrieben werden müssen. Dann kehrt er zu den Aktenschränken zurück, die ihm als Kommode dienen. Als er die Schublade über seinen Socken und Unterhosen aufzieht, beginnt er leise vor sich hinzusummen - nicht »Hörst du, was ich höre«, sondern die Doors, den Song darüber, wie der Tag die Nacht zerstört und die Nacht den Tag zerteilt.
Er zieht sich ein schlichtes blaues Batisthemd an, dann eine Drillichhose. Er schiebt die mittlere Schublade wieder zu und öffnet die oberste. Sie enthält ein Sammelalbum und ein Paar Stiefel. Er nimmt das Sammelalbum heraus und betrachtet einen Moment lang den roten Ledereinband. Auf der Vorderseite ist in abblätterndem Gold das Wort ERINNERUNGEN aufgeprägt. Es ist ein billiges Ding, dieses Buch. Er könnte sich ein besseres leisten, aber man hat nicht immer ein Recht auf das, was man sich leisten kann.
Im Sommer schreibt er öfter Tut-mir-leid, aber das Erinnerungsvermögen scheint zu schlafen. Im Winter, vor allem um Weihnachten herum, erwacht dieses Erinnerungsvermögen. Dann schaut er gern in dieses Buch voller Zeitungsausschnitte und Fotos, auf denen
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